Ampel-Koalition — Farbenlehre einmal anders

Im Straßenverkehr sollen Ampeln (straßenverkehrsrechtlich korrekt: Lichtzeichen) den Verkehrsfluss regeln und für die Sicher­heit der Verkehrsteilnehmer sorgen. Dies funktioniert nicht immer, aber doch überwiegend. Vor allem deshalb, weil die Farbenlehre der Ampel von allen verstanden wird: Rot heißt dort Stillstand, Gelb erzeugt Aufmerksamkeit für den jeweiligen Wechsel des Ge- oder Verbots und Grün steht für freie Fahrt.

Beim Rückblick auf das erste Regierungsjahr der Ampel muss man hingegen feststellen, dass deren Signale für die Bürger ­offensichtlich nicht so eindeutig waren. Denn freie Fahrt ­werden wohl die wenigsten mit Bündnis 90/Die ­Grünen in Verbindung bringen. Aufmerksamkeit hat die FDP zwar ­erzeugt, aber anders als es ihre Wähler wohl erwartet haben. Und die SPD mag in Form des Bundeskanzlers am Ende zwar für den Stillstand die Verantwortung übernehmen müssen, hat aber selbst nicht die alleinige Verantwortung dafür. Auch wenn das von Lars Klingbeil nach der Bundestagswahl im September letzten Jahres euphorisch ausgerufene Jahrzehnt der SPD (Jahrzehnt der SPD läuft gerade nicht so gut) ­inzwischen ziemlich verkorkst daherkommt.

Die reine Faktenlage, in welcher Verfassung sich Staatsfinanzen und Wirtschaft nach einem Jahr Ampel-Regierung befinden, ist ernüchternd. Die Staatsverschuldung ist auf neuen, bisher undenkbaren Höhen angekommen. Die Inflation erreicht monatlich neue zweistellige Höchstwerte und die Stimmung in der Wirtschaft nähert sich im Gegenzug monatlich neuen Tiefstwerten. Eine Rezession ist 2023 absehbar, allein, in welcher Schärfe sie in Deutschland zum Tragen kommt, ist derzeit ungewiss.

Natürlich ist dies nicht nur der Politik der Ampel geschuldet. Zunächst einmal hat Bundeskanzlerin a. D. Dr. Angela ­Merkel in 16 Jahren Regierungszeit das Land – in ­einer an sich prosperierenden Periode – in eine Art Dämmer­zustand mit teilweise fatalen Fehlentwicklungen geführt. Ob es das Internet als „Neuland“ war, das zu einem beschämenden Rückstand in der Digitalisierung der Verwaltung geführt hat, oder die Überforderung der Sozialsysteme durch eine völlig ungeregelte Zuzugspolitik sowie die Ausweitung der Sozialleistungen auf Pump oder die fatale Abhängigkeit im Energiesektor von Russland, die die Energiepreise infolge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine in völlig irratio­nale Höhen hat schießen lassen, immer hat Merkel dies maßgeblich zu verantworten. Und im Gegensatz zum Bundes­präsidenten, Frank-­Walter Steinmeier, weigert sie sich bis heute hartnäckig, zumindest im Nachgang Fehler gegenüber der Öffentlichkeit einzuräumen.

Ebenso können die Spätfolgen der Coronapolitik nicht allein der Ampel zugerechnet werden. Auch hier muss sich Merkel ­gemeinsam mit dem 'Team Vorsicht', zu dem unstreitig auch der amtierende Bundesgesundheitsminister, Karl Lauterbach, und der bayerische Ministerpräsident, Dr. Markus ­Söder, gehört haben, auch wenn Letzterer davon nichts mehr wissen will, einen maßgeblichen Anteil anrechnen lassen.

Doch dies alles kann nicht entschuldigen, dass die Ampel beim Management dieser geerbten wie neuen historischen Herausforderungen die Funktion eines Lichtzeichens gründlich verfehlt hat. Klare, unmissverständliche Signale? Fehlanzeige. Eindeutige Stoppsignale vor Gefahren? Fehlanzeige. Verbesserung des Verkehrsflusses? Fehlanzeige. Stattdessen gab es  den Rücktritt einer Ministerin, die dieses Amt erst gar nicht hätte bekommen dürfen (Ursula Heinen-Esser und Anne Spiegel sind Symbole völlig fehlerhaften Politikmanagements)  eine Verteidigungsministerin, die sich zuvor aus der Politik verabschiedet und nie mit Verteidigungspolitik beschäftigt hatte. Als wolle sie den Abschied aus der Politik bestätigen, hat sie im Amt lange den Eindruck erweckt, bestenfalls als Animateur für den eigenen Sohn zu arbeiten.

Eckhard Schwarzer

Eckhard Schwarzer, Präsident DER MITTELSTANDSVERBUND

„Die Ampelregierung hat sich bemüht, vielfältigste Probleme zu lösen, sie war und ist dabei aber nicht optimal unterwegs. Ein paar Beispiele: Eine allgemeine Gas- und Wärmepreis­bremse ohne genauere Differenzierung der Betroffenheit und klare markt­wirtschaftliche Anreize zur Steigerung der Energieeffizienz verfährt nach dem Gießkannenprinzip — hier braucht es systematische, langfristige und gezielte Individual­hilfen. Wie sollen die akut von enorm hohen Energie­preissteigerungen betroffenen Unternehmen — z. B. im Bäckerhandwerk — finanziell über den Winter kommen? Auch die Spritpreisbremse hatte systemisch keinen Effekt, profitiert haben vor allem die Ölkonzerne. Und das 9-Euro-Ticket war zwar ein netter Ansatz, hat aber dank Gießkanne zu massiven Fehlallokationen geführt. Gleichzeitig fehlt es an einer funktionierenden Infrastruktur. Und bis jetzt ist noch nicht verbindlich mit einem Nachfolgemodell zu rechnen. Wie sollen die Menschen von Bus und Bahn überzeugt werden, wenn Verspätungen und Streckensperrungen an der Tagesordnung sind? Auch in Sachen Digitalisierung passiert längst nicht genug. Bei der Verwaltungsmodernisierung etwa wirkt die Regierung planlos. Eigentlich sollten mit dem Online-Zugangsgesetz bis zum Ende dieses Jahres alle Service­leistungen des Staates für Privatleute und Unternehmen digi­tal verfügbar sein. Das Ziel wird nicht ansatzweise erreicht. Und wenn Digitalisierung Bürokratie abbauen soll, dann dürfen nicht antiquierte Verwaltungsstrukturen und -prozesse in einen digitalen Code gegossen werden. Aktuell kämpfen viele Unternehmen mit dem Wieder­aufflammen der Corona-Pandemie, gestörten Lieferketten, Rohstoffknappheiten, den dramatisch gestiegenen Energiekosten und den Auswirkungen der Inflation. Und trotz all dieser Stapelkrisen soll das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz unbeirrt durchgezogen werden und am 1. Januar 2023 in Kraft treten. Hier setzen wir uns für ein Aussetzen der Frist ein — mehr als sinnvoll wäre es, die Verabschiedung der europäischen Lieferketten-Richtlinie ­abzuwarten. Wir erwarten überzeugende Konzepte — und die ­fehlen an vielen Stellen. Also: Die Ampel-­Regierung war redlich bemüht, ich vergebe eine 4, mit der Anmerkung 'Versetzung gefährdet'. Was im neuen Jahr u. a. absolute Priorität haben muss, ist die Wiederinstandsetzung und Modernisierung der Infrastruktur. Wir brauchen einen zuverlässigen öffentlichen Personennahverkehr, intakte Straßen und Brücken. Gleichzeitig kommt die Digitalisierung in den Schulen viel zu spät und teilweise falsch an. Hier braucht es mehr als nur Computer und Tablets — nämlich eine professionelle Digital-Qualifizierung der Lehrkräfte. In ­unserem Projekt 'Klimaverbund' wurden bereits zahlreiche Beschäftigte der Verbundgruppenzentralen zu sogenannten 'Klima­profis' ausgebildet. Hier braucht es aber im Sinne nachhaltiger Unternehmenspolitik endlich eine staatliche Anerkennung für das Qualifizierungsprofil des 'Klima­profis' in Form ­einer Gleichstellung mit zertifizierten Energieberatern.“

 Es gibt eine Bundesbauministerin, die in Verkennung der Lage und der Möglichkeiten, die Politik in diesem Umfeld hat, nach dem Wunsch der Koalition für 400.000 neue Wohnungen sorgen soll, aber bis auf eine aufsehenerregende Konferenz, in der dieses Vorhaben bestätigt wurde, bisher nichts erreicht hat  Es gibt eine Bundesbildungsministerin (die einzige FDP-­Frau in der ­Regierung), deren Namen wahrscheinlich 80 Prozent der Bevölkerung nicht kennen  Es gibt einen Bundesfinanzminister, der es als größten Fehler des früheren FDP-Parteivorsitzenden ­Guido Westerwelle angesehen hat, bei der letzten Regierungsbeteiligung der FDP in der Regierung Merkel nicht das Finanzministerium besetzt zu haben. Und der vor fünf Jahren meinte, es sei besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren. Inzwischen hat er nachgewiesen, dass die damalige Erkenntnis dem umgekehrten Prozess deutlich überlegen war. Ausgerechnet Christian Lindner also, der selbst ernannte Garant für niedrige Staatsverschuldung und niedrige Steuern (Christian Lindners Versuch, Zahnpasta wieder in die Tube zu drücken), muss sich vom Bundesrechnungshof (Bundeshaushalt 2023: ­Einhaltung der Schuldenbremse auf dem Papier trotz 78 Milliarden Euro neuer Schulden) und dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sagen lassen (Gutachten des Sachverstän­digenrates dürfte Lindner in den Ohren klingeln), eine intransparente Finanzpolitik mit hohen ­Risiken zu betreiben.

Und da gibt es einen Bundeswirtschafts- und Klimaminister, der einer staunenden Öffentlichkeit zu erklären versucht, dass Betriebe ihre Produktion und den Verkauf ihrer Waren vorübergehend einstellen könnten, ohne in Insolvenz geraten zu müssen, und mit seinen Entscheidungen zuletzt die gesamte deutsche Wirtschaft gegen sich aufbrachte (Habeck bringt die gesamte deutsche Wirtschaft gegen sich auf). Wer in einer außergewöhnlichen Krise bei der Entscheidung zur ­Sicherung der nötigen Energieversorgung die Interessen der eigenen Parteibasis höher bewertet als die des Landes und seiner Bevölkerung, darf sich nicht wundern, vom Wähler abgestraft zu werden. Mag Habeck noch so oft davon reden, zur Energieversorgung seien die demnächst abzuschaltenden Kernkraftwerke nicht erforderlich, bleibt es physikalisch dabei, dass in Deutschland ohne europäische Atomkraft die Lichter ausgehen würden. Deutschland muss deshalb darauf hoffen, dass die von den Grünen massiv kritisierten französischen Atomkraftwerke trotz der bekannten Probleme mindestens die nächsten beiden Jahre genau den Atomstrom liefern, den die Grünen in Deutschland nicht erzeugen wollen.

Stefan Genth

HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth

„Die Bundesregierung hat ein turbulentes und extrem herausforderndes Jahr hinter sich — genau wie wir alle. Dabei muss man feststellen, dass immer schnell gehandelt wurde, wenn auch nicht immer in der raschen Zielgenauigkeit, die wir uns im Handel gewünscht hätten. Insbesondere bei Hilfsprogrammen angesichts der explodierenden Energiepreise geht es nach wie vor um Tempo, die Gelder müssen bei den betroffenen Unternehmen ankommen. Auch die Verkündung eines Belastungsmoratoriums war richtig und wichtig. Hier scheint es aber unterschiedliche Interpretationen zu geben. Es ist nicht zu verstehen, warum beispielsweise trotzdem die Bestrebungen zu einem Lieferkettengesetz insbesondere auf europäischer Ebene weiter verfolgt werden. Das Belastungsmoratorium muss jetzt ernst genommen werden. Für das kommende Jahr ist insbesondere von großer Bedeutung, dass das Thema Innenstadt weiterhin ganz oben auf der Agenda stehen muss. Die Krisen der letzten Jahre haben die Standorte in den Stadtzentren enorm geschwächt, da darf die Politik nicht nachlassen, da muss wieder mehr Zug rein. Und ganz grundsätzlich braucht es mehr Vertrauen in die Kraft des Unternehmertums und die Regeln des Marktes. In akuten Krisen ist der Staat sicher als Akteur mehr gefragt, darf aber dabei nicht dauerhaft über das Ziel hinausschießen. Beispielsweise sind die Pläne des Wirtschaftsministers für ein neues Kartellrecht an vielen Stellen nicht passend. Die Bundesregierung darf nicht der Versuchung erliegen, zu viele Dinge bis auf das letzte Komma regeln zu wollen. Die Wirtschaft braucht ihre Freiräume für kreative Ideen, die uns als Gesamt-Gesellschaft voranbringen.“

Ebenso peinlich für Habeck sind seine krampfhaften Versuche, Energien, die die Grünen hier nicht erzeugen wollen, an anderen Stellen der Welt ohne Rücksicht auf Verluste einzukaufen. ­Dafür durfte er sich vom Außenminister Katars vorhalten lassen, Deutschland gehe respektlos mit Katar um. Während das Land als Energielieferant gewünscht sei, werde es im Zusammenhang mit der Fußball-WM massiv kritisiert. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die WM hätte nie nach Katar vergeben werden dürfen. Aber warum ist es angesichts der berechtigten Kritik an der Menschenrechtslage in ­Katar dann besser, sich Flüssiggas aus Katar liefern zu lassen, als heimischen Atomstrom zu produzieren, wenn man zugleich auf die Produktion von Atomstrom in Europa angewiesen ist?

Kommen wir zu einem Dauerthema deutscher Politik: der Entbürokratisierung. Im Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen“ vom November 2021 hieß es schon in der Präambel, die Koalitionäre wollten „staatliches Handeln schneller und effektiver machen und besser auf künftige Krisen vorbereiten. Wir bringen eine umfassende Digitalisierung der Verwaltung voran.“ Wir kommentierten diese Ankündigung damals (Der Ampel-Koalitionsvertrag – viel Klein-Klein, ­zahlreiche Ankündigungen und kaum Zahlen) so: „Zu wünschen wäre es, Zweifel, dass es geschieht, bleiben.“ Als geradezu poetisch bezeichneten wir die Formulierung, „auch die ­Wirtschaft soll in der Verwaltung einen Verbündeten haben“. Wie weit die Ampel bei diesen Zielen innerhalb eines Jahres gekommen ist, werden Sie selbst am besten beurteilen ­können.

Markus Jerger

Markus Jerger, Vorsitzender des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft (BVMW)

„Das Jahr 2022 war für die kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland kein leichtes — und das nach bereits zwei schwierigen Corona-­Jahren. Insbesondere die hohen Energiekosten setzen dem Mittelstand zu. Ein beträchtlicher Teil der Unternehmen hat bereits die Produktion reduziert, für viele geht es um die nackte Existenz. Umso wichtiger sind schnelle und direkte Hilfen durch die Politik. Es muss kurzfristig darum gehen, dem bestehenden Druck durch ausufernde Energiepreise und die hohe Inflation mit angemessenen und wirksamen Entlastungsmaßnahmen zu begegnen. Mittel- und langfristig müssen wirksame Wege gefunden werden, wie die ohnehin drängenden Herausforderungen der Dekarbonisierung und der damit verbundenen Transformation, die Digitalisierung, der sich verstärkende Arbeits- und Fachkräftemangel sowie die massiven Bürokratiebelastungen bewältigt werden können. Hier ist die Ampel-Koalition gefragt. Auch wenn wir die Anstrengungen der Bundesregierung befürworten und unterstützen, besteht seit Monaten der Eindruck, dass die Kollegialität der Koalitionsverhandlungen ideologischen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Koalitionspartnern gewichen ist. Egal ob es dabei um die Laufzeitverlängerung von Kernkraftwerken, die Einhaltung der Schuldenbremse oder mögliche Steuererhöhungen geht, verfestigt sich der Eindruck, dass die Partner viel zu oft im internen Konflikt stehen und dringend benötigte Fortschritte behindern. Deshalb können wir die Leistung der Ampelregierung in ihrem ersten Regierungsjahr — auch unter der Berücksichtigung der zahlreichen Krisen, die auf Deutschland derzeit einprasseln — maximal nur mit einem 'Ausreichend' bewerten. Insbesondere sind uns unproduktive Konflikte zwischen Wirtschaftsministerium und Finanzministerium ein Dorn im Auge. Gerade im Hinblick auf die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen müssen Differenzen zugunsten praktikabler und sachorientierter Lösungen ausgeblendet und überwunden werden. Dennoch gibt es auch positive Überraschungen, zu denen sicherlich Dr. Marco Buschmann als Bundesjustizminister gehört. Ungeachtet der parteilichen Auseinandersetzungen erweckt sein Ministerium den Eindruck, als würde es auch in der jetzigen Krisensituation an seinen Zielen und Aufgaben festhalten. Im nächsten Jahr kommt es darauf an, die Bürgerinnen und Bürger und die deutsche Wirtschaft zu entlasten und zu unterstützen. Ein Belastungsmoratorium ohne effektive Entlastungen wird den Herausforderungen im Hinblick auf die Transformation der deutschen Volkswirtschaft nicht gerecht.“

Zu guter Letzt wollen wir noch auf ein Versprechen eingehen, das die Ampel – wir sagen erwartungsgemäß – gebrochen hat. Vollmundig wurde im Koalitionsvertrag versprochen, gleich im ersten Jahr eine Wahlrechtsreform mit dem Ziel umzusetzen, „nachhaltig das Anwachsen des Bundestages zu verhindern“, der „in Richtung der gesetzlichen Regelgröße“ verkleinert werden soll. Sarkastisch könnte man sagen, als Kompensation dieser missglückten Einsparung ist stattdessen das ­Personal der Regierung erneut massiv angewachsen.

Die Liste der Mängel der Ampel-Regierung ist deutlich ­länger. Gleichwohl soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, als stünde Deutschland kurz vor dem Untergang. Das ist definitiv nicht der Fall. Die Ampel hat auch durchaus manches auf den Weg gebracht, das zukünftig bei der Entwicklung Deutschlands helfen kann. Kaum jemand hätte ihr wohl zugetraut, 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr freizumachen, auch wenn dies in der Form des Sondervermögens bedenklich ist. Auch der am Ende konsequente Kurs gegenüber Russland im Zusammenhang mit dessen Angriffskrieg gegen die Ukraine gehört zu den positiven Überraschungen.

Und die deutsche Wirtschaft, allen voran die mittelständische, ist stark und innovativ genug, auch diesen Widrigkeiten mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu trotzen. Das wird ihr umso besser gelingen, je weniger sie dabei durch staatliche Vorgaben gegängelt wird. Bei aller berechtigten Kritik und sorgenvollen Blicken in die Zukunft sollten Sie deshalb auch an diesem Jahreswechsel mit Optimismus in das neue Jahr gehen. Es wird, das lässt sich schon heute ­sagen, auch kein einfaches Jahr für den Mittelstand. Aber die Stärke des Mittelstandes beruht darauf, Herausforderungen anzunehmen und nach Lösungen zu suchen.

Wie Verbände des Mittelstandes und ein renommierter Wissenschaftler die Arbeit der Ampel-Regierung im ersten Regierungsjahr beurteilen und was sie als dringlichste Maßnahme der Koalition im neuen Jahr betrachten, können Sie den von uns bei ihnen eingeholten Stellungnahmen entnehmen. Wer wollte, konnte noch den Politiker/die Politikerin nennen, der/die ihn am meisten sowohl positiv als auch negativ überrascht hat. Wichtig zur Einordnung der Aussagen für Sie: Aus redaktionellen Gründen mussten uns die Stellungnahmen bis zum 24. November 2022 vorliegen. Spätere Ereignisse konnten deshalb von den Antwortenden nicht berücksichtigt werden.

Prof. Dr. Henning Vöpel

Prof. Dr. Henning Vöpel, ­Direktor cep | Centrum für Europäische Politik

„Endlich wollte man vom Dauerkrisenmodus der Vorgängerregierung in den Fortschrittsmodus wechseln. So proklamierte es der Koalitionsvertrag der Ampel sehr selbstbewusst mit dem Titel »Mehr Fortschritt wagen«. Nach nicht einmal einem Jahr ist bereits klar, dass Fortschritt einfacher gesagt als getan und gut gemeint noch lange nicht gut gemacht ist. Mit dem 24. Februar 2022 ist zu der Fortschrittsagenda der Koalition nun noch eine »Zeitenwende« hinzugekommen, die Bundeskanzler Olaf Scholz im Bundestag in einer durchaus bemerkenswerten Rede ausrief. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat neue Krisen ausgelöst und alte verschärft: Zu den pandemiebedingten Lieferkettenproblemen und dem Arbeitskräftemangel sind Energiekrise, Inflation und Rezessionsrisiken hinzugekommen. Die Ampel ist dadurch notgedrungen in den Krisenmodus zurückgekehrt. Wieder geht es darum, die Kosten und Lasten der Krisen kurzfristig abzufedern und umzuverteilen. Von Wumms und Doppelwumms ist die Rede, ebenso von »Bremsen« und »Deckeln«. So richtig das ist, so wahr ist, dass sich mit dieser Art von Politik die strukturellen Probleme, die sich über Jahre und Jahrzehnte in Deutschland aufgebaut und verschärft haben, nicht bewältigen lassen. Zu lange hat Politik immer nur Gegenwartsprobleme gelöst. Wer nur Gegenwartsprobleme löst, bekommt — geich einer Hydra, der man den Kopf abschlägt und der sogleich zwei neue nachwachsen — immer mehr davon. Es ist mehr denn je an der Zeit, endlich Zukunftsprobleme anzupacken. Auf konzeptioneller Ebene hat die Bundesregierung keine großen Fortschritte gegenüber der Vorgängerregierung gemacht. Die Maßnahmen und Instrumente sind zum Teil handwerklich schlecht gemacht, wie etwa die Gasumlage. Das gilt letztlich auch für die Gaspreisbremse, die zu spät kommt und nicht zielgenau entlastet. Mittelfristig viel wichtiger ist es ohnehin, die Angebotsseite der Volkswirtschaft zu stärken. Eine drohende Deindustrialisierung lässt sich nur abwenden, wenn es gelingt, pragmatisch und deutlich beschleunigt die Energieversorgung klimagerecht und wettbewerbsfähig zu sichern. Im Moment sieht es allerdings eher danach aus, dass die Politik durch immer mehr Regulierung eher eine 'Deformation' als eine Transformation und Erneuerung der deutschen Wirtschaft bewirkt. Gewiss, die amtierende Regierung hat einen enormen Reform- und Transformationsstau geerbt. Auf den Krieg und die strategischen Abhängigkeiten von Energie und Rohstoffen gibt es keine kurzfristigen Antworten. Bislang ist aber nicht erkennbar, dass die Ampel für die selbst ausgerufene Zeitenwende bereits überzeugende Konzepte und Strategien in der Wirtschafts-, Sicherheits- oder Europapolitik entwickelt hätte. Als Schulnote kann man der Regierung nach einem Jahr nicht besser als eine wohlwollende 3− geben.“