Donnerstag, 21. März 2024

Sechster Tragfähigkeitsbericht warnt: Öffentliche Finanzen vor gigantischer Verschuldung bis 2070

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Das Bundesministerium der Finanzen (BMF) hat dem Bundeskabinett gestern den Sechsten Bericht zur Tragfähigkeit der Öffentlichen Finanzen vorgelegt. Mit dem Tragfähigkeitsbericht informiert das BMF einmal pro Legislaturperiode über die langfristige Entwicklung der öffentlichen Finanzen. Die darin enthaltenen Projektionen schreiben die demografiebedingten Ausgaben des gesamtstaatlichen Haushalts unter verschiedenen Annahmen fort. Die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen sei kein Selbstläufer, bewertet das BMF den Bericht. Wie könnte es auch anders sein? Allerdings scheint das BMF überzeugt zu sein, dies betonen zu müssen, ebenso wie seinen Appell, es gelte nun, die notwendigen Reformen anzustoßen, die die Entwicklung der öffentlichen Finanzen positiv beeinflussten.

Wer noch den gemeinsamen Auftritt von Bundesarbeits- und -sozialminister Hubertus Heil und Bundesfinanzminister Christian Lindner zur Zukunft der gesetzlichen Rente im Ohr hat, der sollte den Tragfähigkeitsbericht besser nicht lesen. Sonst könnte er der Schizophrenie anheimfallen. Während beide Minister damals die Sicherung der gesetzlichen Rente und die Stabilisierung ihrer Finanzierung lobten, kann man dem Tragfähigkeitsbericht entnehmen, dass die Gesamtverschuldung des Bundes bis 2070 im schlimmsten Fall auf rund 365 Prozent des BIP anwachsen könnte, maßgeblich verursacht auch durch die Rentenfinanzierung.

Entsprechend ließ sich Lindner in der Pressmitteilung des BMF auch so zitieren: „Die aktuelle Ausgestaltung der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung ist in ihrer jetzigen Form langfristig nicht finanzierbar. Bei der Rentenversicherung haben wir mit dem Generationenkapital bereits einen ersten Schritt gemacht. Wir sind gefordert, auch in anderen Bereichen Reformen auf den Weg zu bringen.“

Schauen wir kurz auf die Kernaussagen des Berichts: Hauptproblem der Tragfähigkeit der Staatsfinanzen ist der fortschreitende demografische Alterungsprozess. Trotz einer durch Zuwanderung deutlich günstigeren Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts stehe den jüngeren Jahrgängen unverändert eine sehr große Babyboomer-Generation gegenüber. Bedingt durch den Austritt der Babyboomer aus dem Arbeitsmarkt zeige sich bereits jetzt, dass der Rückgang der Bevölkerung im Erwerbsalter mit einem Anstieg der Bevölkerung im Ruhestand einhergehe.

Die alterungsbedingten öffentlichen Ausgaben könnten bis 2070 unter ungünstigen Bedingungen von 27,3 Prozent des BIP in 2022 auf 36,1 Prozent in 2070 steigen. Unter günstigen Bedingungen erreichen sie bis 2070 immer noch 30,8 Prozent des BIP. Unter günstigen Annahmen könnte der Schuldenstand nach den Projektionen deshalb bis 2070 auf rund 140 Prozent des BIP steigen, unter eher ungünstigen Annahmen auf rund 365 (!) Prozent des BIP. Dabei gelte es zu berücksichtigen, „dass die Projektionen die verfassungsrechtliche Schuldenregel unberücksichtigt lassen“. Die fiskalische Tragfähigkeit habe sich damit im Vergleich zum vorangegangenen Tragfähigkeitsbericht aus dem Jahr 2020 trotz günstigerer Bevölkerungsvorausberechnung verschlechtert.

Gegenüber dem letzten Bericht habe sich die Tragfähigkeit verschlechtert. Dies sei unter anderem die Folge einer ungünstigeren Ausgangslage der deutschen Wirtschaft und der öffentlichen Finanzen infolge der jüngsten Krisen. Die Anstrengungen zur Bewältigung der Corona-Pandemie und der durch den russischen Angriffskrieg ausgelösten Energiekrise hätten sich deutlich auf die Tragfähigkeit ausgewirkt. Darüber hinaus führe die Verlängerung des Simulationszeitraums von 2060 auf 2070 für sich genommen zu einem Anstieg der Tragfähigkeitslücke.

Das BMF zieht aus dem Bericht folgende Schlüsse: • Kurz- und mittelfristig müssten mit einer konjunkturgerechten Haushaltskonsolidierung fiskalische Puffer wieder aufgebaut werden, um künftige Krisen überwinden und Spielräume für die Finanzierung von Zukunftsaufgaben erarbeiten zu können • Zur Sicherung der Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen seien Strukturreformen erforderlich, die der alterungsbedingten Ausgabenentwicklung entgegenwirkten und die gesetzlichen Sozialversicherungen zukunftsfest machten • Auch im Bereich Gesundheit und Pflege sei mit Blick auf die langfristige Tragfähigkeit künftig noch stärker darauf zu achten, den demografisch bedingten Anstieg der Gesundheitsausgaben, insbesondere über das Heben von Effizienzpotenzialen zu begrenzen • Die im Grundgesetz verankerte Schuldenregel bilde dafür das Fundament. Ihre Einhaltung fordert die Politik fortlaufend auf, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um den aus dem demografischen Wandel resultierenden steigenden Ausgaben zu begegnen.

Man darf wahrscheinlich feststellen, der Tragfähigkeitsbericht werde in der verbleibenden Regierungszeit der Ampel keine Rolle mehr spielen. Allerdings heißt dies nicht, man solle und könne die Projektionen einfach ausblenden. Das macht die Politik seit Jahren, was aber nicht zu einer Lösung, sondern zu einer Verschärfung der Krise führt. Es führt kein Weg daran vorbei, der Bevölkerung insoweit reinen Wein einzuschenken. Dabei ist auch klar, dass Projektionen Prognosen und keine Realitäten sind. Was sich bis 2070 auf dieser Erde tut, weiß keiner. Aber unverantwortlich wäre, außer Acht zu lassen, was passieren wird, wenn alles den derzeit wahrscheinlichsten Weg nimmt. Es ist allemal besser, für notwendig erachtete Einschränkungen wieder zurückzunehmen, als sehenden Auges in die Katastrophe zu laufen.


Verfasst von: Frank Schweizer-Nürnberg | Kommentare (0)

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