Montag, 19. Februar 2024

Abstieg einer Industrienation

Gastkommentar von Dietrich W. Thielenhaus
Blogeintrag | Kommentare (1)

Das je nach Lesart ambitionierte oder auch blumige Start-Motto der Ampel-Koalition lautete 2021 „Fortschritt wagen“. Längst ist es den Widrigkeiten und Interessenkonflikten der Berliner Polit-Realität zum Opfer gefallen. Derzeit würde wohl „Abstieg verwalten“ das Regierungshandeln besser beschreiben. Angesichts der fatalen Mischung von Unfähigkeit und Ideologisierung droht der Wirtschaft ein Flächenbrand mit unabsehbaren Konsequenzen. Das Land braucht dringend eine Agenda 2030 mit wirtschaftspolitischen Reformen zur schnellen und pragmatischen Problemlösung.

 „Jahrelange Erosion“

Deutschland bleibt unter den großen Industrieländern auch 2024 Schlusslicht beim wirtschaftlichen Wachstum. Die OECD hat ihre Prognose kürzlich auf 0,3 % halbiert. Zum Vergleich: Für China werden 4,7 % BIP-Steigerung erwartet, für die USA 2,1 %, für Großbritannien und Italien 0,7 % und für Frankreich 0,6 %. Weltweit rechnet die OECD mit einem Zuwachs um 2,9 %. Die deutsche Wirtschaft leidet unter zunehmendem Auftragsmangel. Fast 37 % der Unternehmen meldeten – laut ifo – für Januar ein schwaches Neugeschäft. Die deutschen Exporte lagen im Dezember 4,6 % unter dem Vormonat. Im Gesamtjahr 2023 fielen die Ausfuhren um 1,4 %, während die Importe sogar um 9,7 % einbrachen. Belastet werden die deutschen Konjunkturaussichten auch durch steigende Rezessionsrisiken in anderen Ländern. Ursächlich dafür sind – nach dem Economic Experts Survey – vor allem geopolitische Ereignisse und die Energiepreise. Das Roland-Berger-Institut geht für 2024 bereits von einem Rückgang der deutschen Wirtschaftsleistung um 0,1 % aus, während sich der IWF mit seiner neuesten Prognose von 0,5 % (noch) im positiven Bereich bewegt. Jörg Krämer, der Chefvolkswirt der Commerzbank merkt an, dass der IWF wie viele andere Volkswirte nur langsam realisiere, wie tiefgreifend die Probleme der deutschen Wirtschaft seien. Deutsche Firmen müssten die Zinswende verkraften und außerdem mit weit höheren Energiepreisen auskommen als ihre US-Wettbewerber. Darüber hinaus litten die Unternehmen „unter einer jahrelangen Erosion der Standort-Qualität und unter dem nachlassenden Rückenwind aus China“. Krämer weiter: „Die deutsche Wirtschaft dürfte sich innerhalb des Euroraums noch lange unterdurchschnittlich entwickeln – zumal sich keine durchgreifenden wirtschaftspolitischen Reformen abzeichnen.“

„Hochgradig giftig“

Dass der Bundesfinanzminister und der Bundeswirtschaftsminister fast zeitgleich öffentlich eingestehen, Deutschland sei „nicht mehr wettbewerbsfähig“, dürfte als einzigartiges Phänomen in die jüngere Geschichte eingehen. Christian Lindner nahm diese erstaunliche Duplizität zum Anlass für die Anmerkung: „Es ist unvorstellbar, dass dies nicht zu politischen Veränderungen führt.“ Deutschland falle zurück, weil das Wachstum ausbleibe. Der Standort sei nicht mehr wettbewerbsfähig. Mit Blick auf die von seinem Kabinettskollegen Robert Habeck geforderte Reform der Unternehmenssteuern via schuldenfinanziertem Sondervermögen verwies Lindner auf die Gefahren einer derartigen Schuldenpolitik. Abzuwarten bleibt, ob und wie der lähmende Ampel-Stillstand weitergeht. Der BDI-Präsident hat diese Politik als „hochgradig giftig“ für die deutsche Wirtschaft bezeichnet. Der BDI fordert eine unverzügliche Stärkung des Standorts und geeignete Investitionsanreize insbesondere mit Blick auf die digitale Transformation, den Klimaschutz und eine nachhaltige, verlässliche Energieversorgung: „Wir brauchen bessere steuerliche Rahmenbedingungen für Investitionen am Standort – und zwar jetzt und nicht irgendwann. Deutschland fällt bei Investitions- und Standortentscheidungen immer mehr zurück. Die steuerlichen Rahmenbedingungen in Deutschland sind nicht wettbewerbsfähig. Um steuerliche Anreize für die Unternehmen zu schaffen, bedarf es eines Steuerreformpakets mit Investitionsprämie. Die Wirtschaft ist auf Anreize für Investitionen in den Klimaschutz angewiesen. Unser Land hat kein Steuereinnahmeproblem. Deutschlands Steuereinnahmen wachsen, die Steuerquote ist auf dem höchsten Niveau seit der Wiedervereinigung. Haushaltskürzungen zu Lasten der Wirtschaft und mittelbare Steuererhöhungen sind kontraproduktiv.“

Gefahr eines Flächenbrandes

Immer mehr deutsche Konzerne kündigen Stellenabbau und Standortverlagerungen an. Ob BASF, Bayer, Bosch, Continental, Miele, Volkswagen oder ZF – die hiesigen Rahmenbedingungen erweisen sich offenbar als nicht mehr konkurrenzfähig. Die vier Spitzenverbände der Deutschen Wirtschaft (DIHK, BDA, BDI und ZDH) haben in einem Brief an den Bundeskanzler „vor dem Verwalten des Status quo“ gewarnt. Dort heißt es: „Der Frust und die Verunsicherung bei vielen Betrieben wachsen – und die Verlagerung von industrieller Produktion ins Ausland nimmt zu. Wir appellieren dringend an Sie und die gesamte Bundesregierung, jetzt Maßnahmen zu ergreifen.“ Der Begriff „Deindustrialisierung“ bestimmt zunehmend das Geschehen. Nach Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) sind bereits 2022 rund 132 Mrd. Dollar mehr Direktinvestitionen aus Deutschland abgeflossen, als in diesem Jahr in die Bundesrepublik investiert worden sind. Höhere Nettoabflüsse sind nie zuvor in Deutschland registriert worden. Damit musste Deutschland den höchsten Kapitalabfluss aller OECD-Staaten verkraften. Zu den von der Politik im Stil einer tibetanischen Gebetsmühle vorgetragenen Versprechen zählt der Abbau der Bürokratie, die wie Mehltau über der Wirtschaft liegt. Dass die Wirklichkeit diesem Anspruch nicht genügt, zeigt eine aktuelle Befragung der Wirtschafts- und Sozialverbände im Vorfeld des geplanten Bürokratieentlastungsgesetzes. Im Ergebnis sind nur 34 der insgesamt 400 eingebrachten Vorschläge von der Bundesregierung umgesetzt worden. Der Arbeitgeberpräsident kommentiert: „Die Bundesregierung enttäuscht mit ihren bisherigen Maßnahmen auf ganzer Linie. Die Scholz-Regierung soll sich ernsthaft mit den Vorschlägen der Wirtschaft auseinandersetzen.“

„Wohlstandsverluste“

Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz hat in einem Schreiben an den Bundeskanzler Sofortmaßnahmen gegen die Rezession sowie Entlastungen der Wirtschaft gefordert. Es müsse umgehend gehandelt werden, da sich die Aussichten im laufenden Jahr stark eintrüben würden. Wörtlich heißt es: „Unserem Land drohen Wohlstandsverluste in einem bisher nicht gekannten Ausmaß.“ Das Forderungspaket umfasst zwölf Schwerpunkte. Dazu gehören die spürbare Steuerentlastung der Unternehmen, die Begrenzung der Sozialabgaben, die steuerliche Begünstigung von Überstunden und die dauerhafte Senkung der Stromsteuer auf das EU-Minimum. Als origineller Beitrag zur Beschleunigung der Planungs- und Genehmigungsverfahren im Baurecht soll eine „Genehmigungsfiktion“ greifen: Erteilen die Behörden für ein genehmigungsfähiges Vorhaben nicht innerhalb von drei Monaten einen Bescheid, soll es als genehmigt gelten. Eigentlich böte dieses Aktionsprogramm genügend Substanz für eine zügige, konstruktive Umsetzung zwischen Regierung und Opposition. In der parteipolitischen Wirklichkeit geht die Chance einer einvernehmlichen Realisierung allerdings gegen Null. Schon kurz nach dem Start der CDU-Initiative begannen die üblichen Berliner Pepita-Rituale, die vor allem der eigenen Vorteilswahrung dienen, der Gegenseite unlautere Absichten unterstellen sowie gemeinsame Entscheidungen verzögern und zerreden.

„Dramatisch schlecht“

Schon Ludwig Erhard wusste: „Wirtschaft ist zu 50 % Psychologie“. Die Stimmung in Deutschland nähert sich allgemeiner Depression. Politiker, Verbände und Medien überschütten die Bevölkerung tagtäglich mit (leider nicht unberechtigten) Alarmrufen und Warnungen. Der grüne Bundeswirtschaftsminister kündigt an, die Bundesregierung werde ihre Konjunkturprognose für das laufende Jahr erneut deutlich senken. Habeck: „Das ist dramatisch schlecht. So können wir nicht weitermachen.“ Sachsens Ministerpräsident vergleicht das Wirken der Ampel mit der DDR: „Es gab eine desaströse Wirtschaftspolitik, die Folgen wurden mit Schulden kaschiert, und dann war der Staat pleite.“ Die Lage schreie nach einer Kurskorrektur. Die WirtschaftsWoche überschreibt einen Kommentar mit „Die Lage ist noch schlimmer als bisher befürchtet“. Die WELT sieht Deutschland „auf Jahre als Schlusslicht der Eurozone“. Die DIHK warnt vor einer „historischen Krise“ und erwartet, dass die deutsche Wirtschaft auch 2024 schrumpfen werde. Die Neue Züricher Zeitung sieht Deutschland „auf dem Weg in die Schulden-Liga“. Der wuchernde Sozialstaat bringe keine Sicherheit, sondern Spaltung. Die woke-Strategie führe zum Niedergang. Nach Meinung des WELT-Chefredakteurs Ulf Poschardt wird die Wirtschaft von Wirtschaftsethikern ruiniert, die vorschreiben wollen, was alles nicht gehe. Beim ständigen Moralisieren merke Deutschland gar nicht mehr, wie der Abstieg jeden Tag voranschreite: wirtschaftlich, politisch und sportlich. Die Zeichen seien überall zu sehen.

„Mit der Realität nicht vereinbar“

Einen bemerkenswerten Beitrag zur Diskussion über die zukünftige deutsche Energieversorgung hat Steven Chu, der Physik-Nobelpreisträger und ehemalige Energieminister der USA, geleistet. Als Hauptursache für die gegenwärtigen Probleme sieht er die Partei Bündnis 90/Die Grünen. In einem FAZ-Interview kritisiert Chu, dass von den Grünen viele Falschinformationen kämen. Bei der pauschalen Ablehnung der Atomenergie fehle es an Vernunft. Die Haltung der Partei sei „nicht mit unserer Realität vereinbar“. Es stelle sich die Frage, ob man eine prosperierende Wirtschaft, Arbeitsplätze und Wohlstand erhalten oder nur die Klimaziele erreichen wolle. Nach aktuellem Stand müsse man sich zwischen sauberer Kernkraft und Kohlekraftwerken entscheiden. Wenn die Grünen so weitermachten, werde es zu einer Abwanderung der Schwerindustrie aus Deutschland kommen, was für die deutsche Wirtschaft „katastrophal“ wäre. (Am Rande: Chu diente von 2009 bis 2013 als fachlich hochkompetenter Energieminister unter dem damaligen US-Präsidenten Barack Obama.) Energieminister Habeck will bis 2030 die verbliebenen Kohlekraftwerke vom Netz nehmen. Die drohende Stromlücke soll durch neue mit Milliardensubventionen geförderte Gaskraftwerke geschlossen werden. Der Energieökonom Manuel Frondel bewertet „Habecks Kraftwerkstrategie als teure Symbolpolitik“. Länder wie Tschechien und Frankreich setzen konsequent auf den massiven Ausbau ihrer Kernkraft. Bei der Planung der künftigen Kapazitäten dürfte der absehbare Strombedarf der Bundesrepublik eine wesentliche Rolle spielen. Ein beispielhafter Hinweis zur energiepolitischen Lage der Nation: Am 8. Februar 2024 musste Deutschland über 24 Stunden lang Atomstrom aus Frankreich importieren, um die bundesweite Versorgung aufrechterhalten zu können. Insidern zufolge sind derartige Abhängigkeiten nicht ungewöhnlich. Die deutsche Energiewende erweist sich damit als gutes Geschäft für die Nachbarländer. Dass gerade die Energiepolitiker, die hierzulande für die Abschaltung der Kernkraft gesorgt haben, jetzt ihr Gewissen mit der Tatsache beruhigen, eben diesen Atomstrom nun aus anderen Ländern zu beziehen, lässt eine erstaunliche moralische Flexibilität erkennen.

Vor der Entscheidung

Offensichtlich hat die Berliner Ampel-Koalition die Grenzen ihrer Möglichkeiten und Zumutbarkeiten erreicht. Der Absturz aller drei Parteien in den demoskopischen Umfragen fördert die Neigung zur Selbstbehauptung im Sinne des Überlebensreflexes „Rette sich, wer kann!“. Es fehlt die Kraft für überzeugende Initiativen zur nachhaltigen Lösung der vielfältigen Problembaustellen. Es reicht allenfalls noch zu ebenso überflüssigen wie schädlichen Pseudo-Reformen wie der Freigabe von Cannabis, die von Medizinern, Polizisten und Juristen mit guten Argumenten abgelehnt wird. Das Land braucht eine „Agenda 2030“ zur schnellstmöglichen Bewältigung der sich verschärfenden Krisen. Falls die Ampel die dafür erforderliche Fähigkeit und Einigkeit nicht mehr aufbringen kann, sollte Christian Lindner dem 1982 erfolgten Beispiel seines Amtsvorgängers und Parteikollegen Otto Graf Lambsdorff folgen und dem Bundeskanzler den Austritt seiner Partei aus der Koalition erklären. Dann wären Neuwahlen die (einzig) saubere Lösung. Aber genau davor schreckt die FDP zurück.

Der Unternehmer Dietrich W. Thielenhaus  kommentiert aktuelle Entwicklungen in Politik und Wirtschaft.


Verfasst von: Dietrich W. Thielenhaus | Kommentare (1)

Gastkommentar


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#1 Leserkommentar
von Arvid Feuerstack, 22.02.2024 11:34

Sehr geehrter Herr Thielenhaus,

Ihr Artikel ist bei mir, wie schon immer in der Vergangenheit, als umfassender Informationskorb angekommen.
Die wesentlichen Kernaussagen, kurz gefasst, werden von Ihnen wiedergegeben und vermitteln einen sehr guten Überblick über die jeweilige wirtschaftliche Situation. Zum Beispiel verweise ich auf die Aussage von Chefvolkswirt Jörg Krämer zur Entwicklung der deutschen Wirtschaftsleistung: "jahreslange Erosion", "nachlassender Rückenwind aus China", deshalb "noch -lange-unterdurchschnittlich entwickeln".
Sie weisen damit auf zwingende volkswirtschaftliche Konsequenzen hin.
Deshalb begrüsse ich Ihre Art der Informationsverknüpfung und Wiedergabe.

Viele Grüsse
Arvid Feuerstack


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