Dienstag, 08. Juni 2021

Wissenschaftlicher Beirat mahnt unverzügliche durchgreifende Rentenreform an

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Am 14. Mai hatten wir berichtet, der Staatszuschuss an die gesetzliche Rentenversicherung explodiere förmlich. Aus ehemals 6,8 Milliarden Euro (1975) sind 2021 sagenhafte 106,1 Milliarden Euro geworden. Am Montag dieser Woche hat der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) seine „Vorschläge für eine Reform der gesetzlichen Rentenversicherung“ veröffentlicht (abgeschlossen wurde die Studie am 4. Mai). Seine Analyse der Zukunft der Rentenversicherung ohne ernsthafte Reform kann nur als erschreckend bezeichnet werden. Sie sowie die Empfehlungen sind gleichwohl lesenswert.

Ausgangspunkt der Überlegungen für den Beirat ist die seit Jahren bekannte demografische Entwicklung: „Die Rentenpolitik muss erstens den Eintritt der Babyboom-Generation in den Ruhestand und den Eintritt geburtenschwächerer Jahrgänge ins Erwerbs-leben verkraften. Immer weniger Erwerbstätige müssen immer mehr Renten finanzieren.“ Verschärft werde diese Belastung des Systems durch die steigende Lebenserwartung der Rentner. Dieser Situation habe 2005 die Regierung Schröder mit der Einführung des Nachhaltigkeitsfaktors Rechnung getragen. Mit ihm wurde die finanzielle Belastung durch „den Rückgang der Anzahl von Menschen, die Beiträge zahlen, und dem Anstieg der Zahl der Menschen, die Renten empfangen, zu prozentual gleichen Teilen auf eine Beitragssatzerhöhung und eine Rentenniveausenkung verteilt“.

Die Große Koalition hat diesen Eingriff jedoch 2018 zunächst befristet bis 2025 mit ihrer Entscheidung ausgehebelt, das Rentenniveau auf 48 Prozent festzuschreiben und gleichzeitig den Beitragssatz auf 20 Prozent zu begrenzen. Dies führt zu den explodierenden Staatszuschüssen an die Rentenversicherung. Gleichzeitig wurden mit der Erweiterung der Mütterrente und der Grundrente weitere Ausgaben eingeführt, denen keine entsprechenden Beitragseinnahmen gegenüberstehen. Primäre Aufgabe der Politik müsste deshalb nach Auffassung des Beirats sein, kurzfristig ein Szenario zu entwickeln, wie es nach 2025 weitergehen soll. Er geht allerdings von einer anderen Haltung der Politik aus:

„Es ist zu erwarten, dass die Politik bald eine Verlängerung der doppelten Haltelinie oder ähnliche Maßnahmen in Erwägung ziehen wird, was ohne zusätzliche Anpassungen nur durch eine erhebliche Ausweitung des Zuschusses aus dem Bundeshaushalt in die Rentenversicherung finanzierbar wäre.“ Die rentenpolitischen Entscheidungen der aktuellen Großen Koalition bewertet der Beirat dabei so: Die rentenpolitischen Maßnahmen der letzten Jahre haben ein rentenpolitisches Dilemma geschaffen. Einerseits sieht das geltende Recht eine Rückkehr zum Nachhaltigkeitsfaktor vor, der die finanziellen Belastungen des demographischen Wandels gleichmäßig auf die ältere und die jüngere Generation verteilt und in diesem Sinne das Fundament einer langfristig tragbaren Lösung schaffen kann. Andererseits hat die Haltelinienpolitik der großen Koalition große Erwartungen für die Zeit nach deren Gültigkeit geweckt, die mit der Rückkehr zum alten Recht mit seinem Nachhaltigkeitsfaktor inkompatibel sind.

Bei der Analyse, welche rentenpolitischen Entscheidungen getroffen werden sollten, hat sich der Beirat bewusst Beschränkungen aufgelegt: „Dabei konzentriert sich das Gutachten auf Reformen innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung, ohne die grundsätzliche Struktur des Systems der deutschen Altersvorsorge in Frage zu stellen. Daher werden Vorschläge wie die Einbeziehung von beamtet und selbständig Erwerbstätigen in die gesetzliche Rentenversicherung ebenso ausgeklammert wie Vorschläge zur größeren Verbreitung von Betriebsrenten oder der Vorschlag einer aktienbasierten Zusatzrente, zumal diese erst in sehr langer Frist wirksam sein können.“ Zudem hat er darauf verzichtet, Modelle anhand einer geänderten demografischen Entwicklung, etwa durch gesteigerte Zuwanderung, zu bewerten, weil diese Faktoren nicht in der Lage seien, „die Probleme der gesetzlichen Rentenversicherung in den nächsten 20-30 Jahren zu lösen. Vor allem ein Anstieg der Geburtenrate würde erst sehr langfristig wirken.“

Ausgangspunkt der Überlegungen des Beirats ist die eindeutige demografische Entwicklung, egal welche Prognosen man heranzieht. In allen Szenarien steige der Altersquotient in den nächsten 15 Jahren stark an. Zudem nehme die Lebenserwartung deutlich zu. Das Statistische Bundesamt gehe in einem mittleren Szenario „für die Zeit zwischen 2020 und 2060 von einer nahezu linearen Steigerung der Lebenserwartung von Männern um 5,5 Jahre aus, für Frauen um 4,3 Jahre aus, d.h. Männer/Frauen haben im Jahr 2060 eine Lebenserwartung von 84,4/88,1 Jahren statt 78,9/83,8 im Jahr 2020.“ Beide Entwicklungen kumulieren nach derzeitigen Berechnungen im Jahr 2035, also in 14 Jahren! Dann bleibt der Altersquotient bis 2050 in etwa gleich, eher er nach den derzeitigen Zahlen weiter deutlich ansteige.

Obwohl die finanzielle Ausstattung der Rentenversicherung aus Bundesmittel schon beängstigende Ausmaße angenommen hat, wird sich die Situation allein schon aufgrund der wirtschaftlichen Folgen der Corona Pandemie noch verschärfen, allerdings, so der Beirat, „mit ein bis zwei Jahren Verzögerung ein, da die Rentenanpassung wie oben beschrieben nur mit Verzögerung auf Änderungen des Nettolohns bzw. des Rentnerquotienten reagiert“. Dafür bleiben die Auswirkungen im System erhalten, weil „die Corona-bedingte Rezession die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler permanent, d.h. auch nach dem Projektionsende des Rentenversicherungsberichts, etwa einen halben Prozentpunkt Beitragssatz kosten wird, während das Sicherungsniveau vor Steuern langfristig um etwa einen Prozentpunkt höher liegen wird als in der Projektion aus der Zeit vor der Corona-Pandemie.“

Nach altem Recht hätte der Nachholfaktor dafür gesorgt, dass dieser Effekt nach einigen Jahren wieder abgebaut wird. Durch das Ausschalten des Nachholfaktors im Zuge des Rentenpakts 2019 wirkt dieser Effekt nun jedoch permanent. Deshalb empfiehlt der Beirat, den Nachholfaktor noch vor 2025 wieder einzuführen und die beschlossene doppelte Haltelinie nach 2025 aufzugeben. Würde sie beibehalten, stiegen die Kosten für den Steuerzahler exorbitant: „Der Anteil der Bundeszuschüsse in die Rentenversicherung am Bundeshaushalt würde daher selbst bei einer im Gegensatz zur jetzigen doppelten Haltelinie abgeschwächten Haltelinienkombination von 48% beim Sicherungsniveau und 22% beim Beitragssatz von derzeit weniger als einem Drittel auf mehr als die Hälfte ansteigen. Wollte man gar die derzeitigen Haltelinien von 48% beim Sicherungsniveau und 20% beim Beitragssatz fortführen, würden die zur Defizitdeckung notwendigen zusätzlichen Bundesmittel 23% im Jahr 2045 bzw. 30% im Jahr 2060 betragen, langfristig also müssten mehr als 60% des Bundeshaushalts in die Rente fließen.“

Vergleichsweise politisch unpopulär ist die Forderungen des Beirats, das Renteneintrittsalter weiter zu erhöhen. Finanziell dürfte es dazu allerdings keine Alternative geben. Zudem plädiert der Beirat dafür, das starre Renteneintrittsalter durch ein Renteneintrittsfenster zu ersetzen, „innerhalb dessen die Menschen ihr Eintrittsalter frei wählen können und damit auch ihre Rentenhöhe bestimmen“. Dabei sei eine Untergrenze (drei Jahre) erforderlich, „da sich andernfalls Menschen mit sehr geringen Rentenansprüchen schon frühzeitig aus der solidarischen Alterssicherung verabschieden und Grundsicherung beziehen könnten.“ Als Pendant dazu sollte es auch eine Obergrenze (fünf Jahre) geben. Aktuell betrage das Verhältnis zwischen Arbeitszeit und Rentenbezug (bei der Rente mit 67) 2:1. Dieser Quotient sollte als explizite Regel gesetzlich verankert werden. Dies hätte zur Folge, dass nach den derzeitigen Prognosen der Lebenserwartung das Rentenalter bis zum Jahre 2042 auf 68 Jahre steige.

Während in der Klimapolitik und bei der Pandemiebekämpfung allseits die Forderung erhoben wird, der Wissenschaft zu folgen, scheint dies bei der Rentenversicherung kaum jemand für nötig zu halten. Ansonsten wäre das Rentensystem nicht in der Lage, in der es sich in zwischen befindet. Denn die Befunde des Wissenschaftlichen Beirats sind nicht neu. Daher ist leider auch nicht zu erwarten, dass die zukünftige Bundesregierung (egal, wer sie stellt) sich an die Ergebnisse des jetzigen Gutachtens hatten wird. Wer dies nicht tut, sollte aber dann aber auch klar sagen, warum er es nicht tut. Und zudem sollten diejenigen, die einen kompletten Umbau der Rentenversicherung planen, wie beispielsweise die SPD oder auch Bündnis 90/Die Grünen, so ehrlich sein zuzugeben, den Wählern auch erklären, dass sie dies vorrangig deshalb empfehlen, um die unausweichlichen Folgen der Fehlentwicklung der Vergangenheit mit vermeintlich weniger starken finanziellen Einbußen zu kaschieren.

Sollte jemand der für den kommenden Bundestag Kandidierenden meinen, eine wirkliche Rentenreform habe noch Zeit, sei ihm diese Feststellung des Beirats zur Lektüre empfohlen: „Die zentrale Aussage ist, dass es umso schwerer wird, Mehrheitsfähigkeit und Generationengerechtigkeit miteinander zu vereinbaren, je länger Reformen aufgeschoben werden.“ Der Beirat belässt es jedoch nicht bei Empfehlungen, er hat durchaus auch deren politische Durchsetzbarkeit im Blick. Eine Rentenreform, so seine Bewertung, sei dann in der Gesamtbevölkerung mehrheitsfähig, „wenn sie im Interesse derjenigen Wählerinnen und Wähler ist, deren Alter in etwa dem Median der Altersverteilung entspricht. Wenn Wählerinnen und Wähler mit diesem mittleren Alter von einer Ausgabenkürzung profitieren, dann profitieren ebenfalls alle, die jünger sind, so dass eine Mehrheit dafür ist. Wenn Wählerinnen und Wähler dieses Alters unter einer Ausgabenkürzung leiden, gilt das für alle, die älter sind, wiederum mit der Folge, dass die Medianwählerin eine Mehrheit auf ihrer Seite hat.“

Konkret bedeutet dies für zukünftige Regierung: „In der Altersverteilung der Wahlbevölkerung für die Bundestagswahl 2017 lag der Median bei 52 Jahren. Zudem war die Wahlbeteiligung, wie auch bei früheren Bundestagswahlen, bei älteren Menschen höher. Der Median in der Altersverteilung der Wählerinnen und Wähler war daher nochmals höher als der Median der wahlberechtigten Bevölkerung (Bundeswahlleiter 2018). Der demographische Wandel wird dazu führen, dass das Medianalter bei künftigen Wahlen noch höher liegen wird. Damit kommt der Höhe der Rentenleistungen aus Sicht der Medianwählerin mehr und mehr Bedeutung zu, während die Belastung durch Beiträge und Steuern an Bedeutung verliert.

So eindeutig die Analyse auch ist, wir wagen mal die Prognose, auch diese Studie wird das Los vieler anderer Expertisen treffen: Sie wird kaum je Eingang in die tatsächliche Politik finden. Es sei denn, es gründet sich eine Untergruppe Fridays for Future, die nicht nur Klimaschutz für überlebenswichtig erklärt, sondern auch verlässliche und bezahlbare Rentenpolitik!


Verfasst von: Frank Schweizer-Nürnberg | Kommentare (0)

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