Dienstag, 21. März 2023

Ist die Wahlrechtsreform tatsächlich ein Angriff auf die Demokratie?

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Wenn Dr. Markus Söder und Die Linke gleichermaßen von einem Angriff auf die Demokratie reden, dann, so könnte man süffisant sagen, muss die Ampel mit ihrer Wahlrechtsreform viel richtig gemacht haben. Aber so einfach wollen wir es uns nicht machen. Wir wollen auch nicht der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorgreifen, die es nach Ankündigung der Union und der Linken zur Rechtmäßigkeit der Neuregelung geben soll, und die Frage beantworten, ob die Reform verfassungsgemäß ist. Wir wollen nur ganz allgemein einsortieren, was speziell von der überschäumenden Kritik der CSU und der Linken an der Wahlrechtsreform zu halten ist.

Beginnen wir einmal mit den Wahlrechtsgrundsätzen, die vor und nach der Reform gelten. Das Wahlrecht zur Bundestagswahl ist nicht nur kompliziert, es ist auch ein Versuch, sich widersprechende Wahlprinzipien miteinander zu verbinden. Man könnte vielleicht sagen, der typisch deutsche Versuch, es allen recht zu machen. Die Erststimme, die vor allem der CSU und der Linken so ans Herz gewachsen ist, funktioniert nach dem Prinzip der Mehrheitswahl: Wer die meisten Stimmen im Wahlkreis erhalten hat, war bisher gewählt. Die Stimmen der unterlegenen sind insoweit verloren. Nach diesem Prinzip wird etwas in Großbritannien gewählt, was dazu führt, dass dort schon einmal Parteien Mehrheiten im Parlament erzielen, obwohl sie unter Berücksichtigung aller Stimmen gar keine Mehrheit erhalten haben.

Bei der Zweitstimme dagegen handelt es sich um eine Verhältniswahl. Die Parteien erhalten so viele Sitze, wie es ihrem prozentualen Anteil an der Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen entspricht (die Besonderheit des Mindeststimmenanteils, Sperrklausel, einmal außen vor gelassen). Nach dem bisher geltenden Wahlrecht, wie auch nach dem neuen Wahlrecht, ist für die Anzahl der Sitze im Bundestag die Anzahl der Zeitstimmen maßgeblich (§ 6 Bundeswahlgesetz). Was die Sache so kompliziert macht, ist die Tatsache, dass das Mehrheitswahlprinzip der Erststimme damit nicht zusammen passt. Erhält eine Partei mehr Mandate über die Erststimme als ihrem Anteil bei den Zweitstimmen entspricht, wird das Ergebnis der Zweitstimme verfälscht, das aber eigentlich maßgeblich sein soll. Dies führte bisher zum komplizierten System des Ausgleichs dieser Sitze über Überhangmandate. Und das wiederum hat den Bundestag mehr und mehr aufgebläht, weil immer mehr Parteien in den Bundestag eingezogen sind, was die Anzahl der Überhangmandate ansteigen lässt.

Selbst die Union war bisher der Meinung, dieser Zustand müsse korrigiert werden. Die Union, vor allem die CSU, wollte dies aber möglichst unter Beibehaltung ihres Wettbewerbsvorteils, sprich Beibehaltung aller Direktmandate (Erststimmen) unter Verzicht auf Überhangmandate. Hätte dies bereits bei der letzten Wahl gegolten, würde die Union heute den Kanzler stellen. So weit, so durchschaubar: Dass weder SPD noch Bündnis 90/Die Grünen noch FDP daran Gefallen finden, ist ebenso nachvollziehbar. Denn sie profitieren nachweislich von den Überhangmandaten mehr als die Union. Die Linke profitiert vor allem von der Sonderregelung, mit drei gewonnen Direktmandaten in den Bundestag einziehen zu dürfen, auch wenn sie an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert (Grundmandatsklausel).

Diese unterschiedlichen Interessenlagen gab es schon während der Großen Koalition, als alle Versuche einer Wahlrechtsreform letztlich an der Union gescheitert sind. Sie hätte daher eigentlich den geringsten Grund, sich jetzt über eine Regelung aufzuregen, die sie aus ihrer Sicht benachteiligt. Nicht zuletzt Dr. Wolfgang Schäuble hatte die Union immer davor gewarnt, die Reform weiter zu verschieben. Schäuble war klar, andere Mehrheiten könnten sich schnell auf Lösungen einigen, die schlechter für die Union sind. Welche Regelung hätte wohl die CSU getroffen, hätte sie dafür eine Mehrheit?

Wie gerecht oder ungerecht man die neue Ampelregelung hält, nach der im Wesentlichen keine Erststimmen mehr berücksichtigt werden, die über dem Zweitstimmenergebnis liegen, hängt allein davon ab, wie wichtig eine Erststimme sein soll. Die Union, allen voran die CSU, sieht in der Erststimme die entscheidende Stimme. Nur entspricht dies leider nicht dem geltenden Wahlrecht. Und alles Geschrei darüber, dass mancher gewählter Wahlkreisabgeordneter nicht mehr im Bundestag vertreten sein wird, wenn die Ampel-Regelung Gesetz bleibt, relativiert sich, sofern den Wählenden klar gesagt würde, die Erststimme solle zukünftig über die Zusammensetzung des Parlaments entscheiden. Dann dürfte nämlich mancher Zweitstimmenwähler sein Erststimmenverhalten deutlich ändern.

Bisher wählen viele Wähler taktisch: Die Zweitstimme erhält die Partei, die sie eigentlich präferieren. Mit der Erststimme wählen sie den Kandidaten, der der eigenen politischen Ausrichtung am nächsten kommt, sofern man dem Erstimmenkandidaten der präferierten Partei keine Chancen auf den Sieg zutraut oder ihn, aus welchen Gründen auch immer, nicht wählen möchte. Daher kommen viele Stimmen für die Union. Dieses Verhalten würde sich sofort ändern, sofern den Wählern die Konsequenzen dieses Verhaltens verdeutlicht würden, dass die Erststimmen am Ende den Ausschlag über die Zusammensetzung des Bundestages geben sollen.

Und auch das Gejammer der CSU über die Streichung der Grundmandatsklausel zur Abwendung der Sperrklausel (Fünf-Prozent-Hürde), ist heuchlerisch. Die CSU profitiert bisher davon, dass sie als einzige im Bundestag vertretene Partei nur in Bayern antritt und dennoch an der Bundestagswahl teilnimmt. Warum wohl hat sie bisher am Ende immer darauf verzichtet, die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU aufzukündigen? Weil CDU wie CSU wissen, dass ein getrennter Aufmarsch beider Parteien in allen Bundesländern das Gesamtergebnis für beide eher nach unten ziehen würde. Die CSU könnte ihrem eigenen Selbstverständnis nach ja locker die Sperrklausel überwinden, sofern sie bundesweit anträte. Vor diesem Hintergrund wirken die Behauptungen eines Anschlags auf die Demokratie geradezu heuchlerisch.

Und Die Linke? Wie kommt eigentlich eine Partei, die Nachfolgerin der SED ist, dazu, davon zu sprechen, die Wahlrechtsreform sei „vergleichbar mit den Tricksereien der Trump-Republikaner“? Bei allem Respekt, dass man klüger werden kann und einem nicht dauerhaft Sünden der Vergangenheit vorgehalten werden sollten: Etwas mehr Mäßigung stände der Partei in Fragen des Wahlrechts gut zu Gesicht. Warum eine Partei trotz Verfehlens der notwendigen Stimmenzahl allein aufgrund dreier Direktmandate in den Bundestag einziehen darf, ist eigentlich eher erklärungsbedürftig als das Gegenteil.


Verfasst von: Frank Schweizer-Nürnberg | Kommentare (0)

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