Mittwoch, 02. November 2022

Rot/Grüner Koalitionsvertrages für Niedersachsen setzt voll auf Energie- und Verkehrswende

Blogeintrag | Kommentare (0)

Allerheiligen ist in Niedersachsen kein gesetzlicher Feiertag, weshalb die Koalitionspartner der neuen niedersächsischen Landesregierung – SPD und Bündnis 90/Die Grünen – gestern ihren Koalitionsvertrag „Sicher in Zeiten des Wandels“ vorgelegt haben. In zwölf Kapiteln und auf 134 Seiten (Schwarz/Grün in NRW benötigte 137 Seiten, in Schleswig-Holstein dagegen sagenhafte 244 Seiten) ist dort niedergelegt, was in den kommenden fünf Jahren nach dem Willen der Parteien in Niedersachsen politisch geregelt werden soll. Große Überraschungen gibt es nicht. Das meiste ist bei den beiden Regierungspartnern vorhersehbar gewesen. Deshalb konnten sie den Vertrag auch innerhalb kürzester Zeit aushandeln.

Wie immer bei Koalitionsverträgen geht es in der Präambel erst mal etwas pathetisch zu. „Wir werden eine Koalition bilden, die das große Ganze sieht, das Land handlungsfähig durch diese Krisen führt und nicht in kleinteiligen Diskussionen verharrt“, kann man daher dort lesen. Nun ja, es hat auch schon kühnere Ankündigungen von Regierungsparteien gegeben. Wie kleinteilig die Regierungspolitik im Alltag wird, wird sich dann noch zeigen. Der Koalitionsvertrag enthält auch jetzt schon so manches Kleinteilige.

Wenig überraschend nimmt die Energie und Klimapolitik breiten Raum ein. In der Präambel heißt es dazu: „Wir werden schnellstens dafür sorgen, dass Niedersachsen unabhängig wird von Gas- und Ölimporten. Wir werden die erneuerbaren Energien in Niedersachsen massiv ausbauen und unseren Energiebedarf zu großen Teilen aus Wind-, Sonnen- und Bioenergie decken. Wir werden Niedersachsen als Erneuerbare-Energie-Land Nummer eins etablieren.“ Im Vertrag selbst wird  sie umfänglich im ersten Kapitel „Energie, Klima, Umwelt, Bauen & Wohnen“ auf 17 Seiten beschrieben.

Für Verhältnisse der Grünen sind die Maßnahmen eher weniger ambitioniert. So soll Klimaneutralität ‘erst’ 2040 erreicht werden. Bayern, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen sind da deutlich ambitionierter. Ob‘s an der SPD oder daran liegt, dass niedersächsische Grüne realitätsnäher sind? Immerhin: „Die Landesverwaltung reduziert ihre Treibhausgasemissionen bis 2030 um 80 Prozent und wird bis 2035 klimaneutral. Dafür werden wir die Strategie für eine klimaneutrale Landesverwaltung weiter konkretisieren.“ Und der Landesfuhrpark soll sogar „bis 2030 emissionsfrei“ gemacht werden.

Auch sonst ist die Stoßrichtung der niedersächsischen Klimapolitik klar. So heißt es in der Präambel, die Parteien wollten „Vorreiter für eine klimafreundliche sowie sozial gerechte Mobilität sein und setzen uns für einen massiven Ausbau des Öffentlichen Nahverkehrs ein. Egal ob auf dem Land oder in der Stadt – alle Niedersächsinnen und Niedersachsen sollen überall einen verlässlichen Zugang zu Bus und Bahn haben.“ Vom Auto ist da im VW-Land keine Rede mehr. Dafür wird dem Verbrennungsmotor auch in Niedersachsen der Garaus gemacht. Im zweiten Kapitel ‘Wirtschaft und Verkehr’ heißt es nämlich: „Wir machen Niedersachsen zum Vorreiter für nachhaltige, faire, kindgerechte und damit generationsübergreifende sowie sozial gerechte Mobilität. Wir wollen eine Mobilitätsgarantie, die es allen Menschen ermöglicht, in ganz Niedersachsen zügig, zuverlässig, barrierefrei und klimafreundlich von A nach B zu kommen. Wir streben die Unabhängigkeit von Treibstoffen aus fossilen Energieträgern an, fördern die freie Wahl der Verkehrsmittel und setzen auf die Chancen der Digitalisierung.“ Doch diese „Freie Wahl“ der Verkehrsmittel“ wird anschließend rigoros eingeschränkt: „Wir brauchen mehr Mobilität bei weniger Verkehr: Motorisierte Fahrten mit fossilen Brennstoffen müssen vermieden, verlagert und energie- und flächeneffizient umgestaltet werden. Neue Angebote laden Menschen ein, dauerhaft auf den Umweltverbund umzusteigen.“

Unverändert setzt die neue Landesregierung auf Windenergie. 2,2 Prozent der Landesfläche sollen deshalb als Windenergiegebiete rechtsverbindlich ausgewiesen werden. Genügt dies nicht, um das Ausbauziel des Niedersächsischen Klimagesetzes zu erreichen, soll das Flächenziel noch in dieser Legislaturperiode auf 2,5 Prozent angehoben werden. Zugleich soll aber auch die Solarenergie und Biomasse ausgebaut werden. So soll eine Solarpflicht schnellstmöglich beim Neubau und ab dem 1. Januar 2025 bei grundlegenden Dachsanierungen eingeführt werden. Die Schilderung der Vorhaben bei der Photovoltaik verschafft uns auch eine neue Wortschöpfung. „Um diese anspruchsvollen Ziele zu erreichen“, heißt es dort, „werden wir eine Solar-Offensive starten, um Niedersachsens Dächer, Wände und Parkplätze zu solarisieren“. Solarisieren hat dann wohl Chancen, demnächst das Unwort des Jahres zu werden.

Was es in Niedersachsen nicht geben wird, ist auch klar: „Fracking zur Gewinnung von Erdöl und Erdgas aus unkonventionellen Lagerstätten wird von uns abgelehnt und muss verboten bleiben. Wir bekennen uns zum 2011 beschlossenen Ausstieg aus der Atomkraft. Dieser ist unumkehrbar.“ Sicherheitshalber fügen die Koalitionäre hinzu: „Debatten um Laufzeitverlängerungen lehnen wir ab.“ Es wäre allerdings das erste Mal in Deutschland, dass Koalitionsverträge verbindlich regeln können, worüber in Deutschland diskutiert wird.

Nur am Rande: Wie weit die Fokussierung bei der Klimapolitik inzwischen geht, belegt diese Formulierung aus dem sechsten Kapitel ‘Soziales, Gesundheit und Gleichstellung’: „Wir unterstützen niedersächsische Krankenhäuser auf ihrem Weg zu mehr Klimaschutz und mehr Energieeffizienz, um den ökologischen Fußabdruck im Gesundheitswesen zu reduzieren. Unser Leitmotiv ist dabei der Ansatz „Green Hospital“. Zudem unterstützen wir unsere Krankenhäuser bei Qualifizierungsmaßnahmen im Klimamanagement.“

Ein wichtiges Thema ist der Landesregierung auch die Behandlung der Wohnungsnot. Dazu heißt es schon in der Präambel, der Wohnungsmarkt sei „an vielen Orten in Niedersachsen seit Jahren angespannt. Das ist eine zentrale sozialpolitische Herausforderung“. Die Problemlösung ist allerdings sehr staatsbezogen: „Wir wollen eine Landeswohnungsgesellschaft gründen, die selbst Wohnungen kaufen, bauen und vermieten kann. Damit schaffen wir zusätzlichen bezahlbaren Wohnraum.“ Die Annahme, der Staat könne besser und schneller für den Wohnungsbau sorgen als die private Wirtschaft, wenn diese nicht unnötig gebremst wird, ist und bleibt leider eine Mär. So wenig wie Doppel-Wumms-Kanzler Scholz 400.000 Wohnungen bauen kann, wird Niedersachsen seine geplanten 100.000 Sozialwohnungen mit diesem Konzept schaffen.

In der Präambel ist auch zu lesen, neben der Klimakrise sei „die Digitalisierung der größte Innovationstreiber“. Das überrascht als Feststellung zwar nicht, aber sich als Politiker in Deutschland engagiert und positiv mit dem Thema Digitalisierung zu beschäftigen, ist angesichts der Verhältnisse in Deutschland schon gewagt. Wer daran zweifelt, muss nur auf sich wirken lassen, dass die neue Landesregierung  den Schulen „schrittweise digitale Endgeräte durch das Land zur Verfügung stellen“ will. Will, wohl gemerkt! Es ist bisher nur rudimentär geschehen.

Positiv zu erwähnen ist, dass im zweiten Kapitel ‘Wirtschaft und Verkehr’ betont wird, „unsere wirtschaftspolitische Hauptaufgabe in den kommenden Jahren ist die Sicherung der Wertschöpfung und Beschäftigung der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) und insbesondere des Handwerks“. Allerdings muss auch dieser Personenkreis damit leben, dass die Landesregierung „eine erfolgreiche Dekarbonisierung der Wirtschaft“ für „zwingend erforderlich“ hält. Dafür brauche es „genügend erneuerbare Energien und ausreichend grünen Wasserstoff“.

Eher wieder grundsätzlich ist die Feststellung in der Präambel: „Wir stehen für einen aktiven Staat, der gerade in schwierigen Zeiten den Bürgerinnen und Bürgern Sicherheit gibt. Sicherheit ist mehr als nur der Schutz vor Kriminalität und im öffentlichen Raum, wie ihn die niedersächsische Polizei seit vielen Jahren schafft.“ Sicherheit ja, aber das mit dem aktiven Staat ist halt so eine Sache. Im Detail heißt es etwa im zweiten Kapitel zur Wirtschaftspolitik: „Für den Wandel zu einer sozial-ökologischen Wirtschaft müssen Planung und Genehmigung beschleunigt werden. Verwaltungsabläufe werden vereinfacht und digitalisiert. Staat und Verwaltung müssen Innovationstreiber sein. Dafür müssen bei Bedarf auch die personellen Voraussetzungen geschaffen werden.“ Ausgerechnet der Staat soll Innovationstreiber sein? Wann wäre er das je gewesen?

Die Staatsgläubigkeit ist an vielen Stellen des Koalitionsvertrages zu merken. Vor allem auch im vorletzten Kapitel ‘Medien’. Dort wird erneut das hohe Lied es öffentlich-rechtlichen Rundfunks gesungen, obwohl der nun wirklich aktuell mehr als ein Beispiel parat hält, wie es um ihn bestellt ist. Auch der NDR liefert dazu reichlich Anschauungsunterricht. Dennoch heißt es im Koalitionsvertrag: „Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist ein wichtiger Bestandteil der Information und dient damit der Demokratie – vor allem angesichts neuer gesellschaftspolitischer Herausforderungen wie der zunehmenden Verbreitung von Verschwörungsmythen, Skepsis und Desinformation. Deswegen setzen wir uns für einen starken öffentlich-rechtlichen Rundfunk auch im digitalen Zeitalter und seine finanzielle Absicherung insbesondere für qualitativ gut aufbereitete Information, kompetente Recherche, vertrauenswürdigen Journalismus und das Aufrechterhalten einer vielfältigen Meinungslandschaft ein. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk leistet mit guten Informationen für die Menschen einen wichtigen Beitrag zur sachlichen Meinungsbildung.“ Wäre der ÖRR so aufgestellt, würde es stimmen. Die Realität ist aber eine ganz andere.

Quasi als Kompensation wird daher den privaten Anbietern versprochen: „Wir wollen den Qualitätsjournalismus in der Aus- und Weiterbildung in regionalen Verlagshäusern, privaten und nichtkommerziellen Rundfunkanstalten fördern und eine Wirtschaftsförderung als Unterstützung für die Verlagshäuser auf dem Weg in die Digitalisierung prüfen. Weiter wollen wir einen Runden Tisch zur Förderung von Qualitätsjournalismus im Flächenland Niedersachsen anstoßen und uns auf Bundesebene für weitere Hilfen für Journalismus und Verlage, etwa im Bereich der Distribution und Digitalisierung, einsetzen.“ Nicht, dass die Verlage diese Hilfe nicht gebrauchen könnten. Aber wir unabhängig kann ein privater Verlag gegenüber den Regierenden sein, dessen Existenz von staatlicher Unterstützung abhängt? Und dann heißt es auch noch: „Wir werden die Arbeit des nichtkommerziellen Bürgerrundfunks für Niedersachsen stärker fördern. Mit seinem Fokus auf regionale und kommunale Themen ergänzt er die niedersächsische Medienlandschaft.“ Niedersachsen wird damit vollends zum Staatsrundfunkland.

Zum Abschluss noch drei kleine Schmankerl aus dem Koalitionsvertrag. Die inzwischen amtierende Regierende Bürgermeisterin in Berlin, Franziska  Giffey, die mal ein Gute-Kita-Gesetz auf den Weg gebracht hat, stand offenbar Pate bei der Formulierung: „Zusammen mit den Sozialpartnern werden wir einen ‘Masterplan Gute Arbeit’ erstellen, um Mitbestimmung zu stärken, Förderkriterien neu auszurichten und die Chancen der Digitalisierung für eine moderne Arbeitswelt noch tiefer in Niedersachsen zu verankern.“ Ja, Worte können so schön sein und die Realität vernebeln.

Kurios auch die Erkenntnis in Kapitel 3 ‘Landwirtschaft, Ernährung und Verbraucherschutz’: „Das Wissen über eine gesunde und nachhaltige Ernährung hat in der Gesellschaft abgenommen. Das derzeitige Ernährungsverhalten überlastet die planetaren Grenzen.“ Allenfalls dürfte das von den Koalitionären gewünschte entsprechende Verhalten abgenommen haben, aber wohl kaum das Wissen.

2012 rief die damalige nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft ‘ihr’ Projekt „Kein Kind zurücklassen“ in NRW ins Leben. Kraft ist längst Geschichte. Der Slogan offenbar nicht. In Niedersachsen heißt es jetzt im vierten Kapitel ‘Bildung’: „Kein junger Mensch soll ohne Anschlussperspektive die Schule verlassen. Wir sehen die Notwendigkeit für einen – wie von der Bundesregierung geplanten – Zukunftsfonds und werden diesen gemeinsam mit dem Bund umsetzen.“


Verfasst von: Frank Schweizer-Nürnberg | Kommentare (0)

Zurück zum Blog

Kommentar verfassen

Bitte beachten Sie bei Ihren Kommentaren unsere Netiquette