Montag, 12. September 2022

Ampel-Ethik: zwischen Gesinnung und Verantwortung

Gastkommentar von Dietrich W. Thielenhaus
Kommentar | Kommentare (0)

„Die energiepolitische Realitätsverweigerung der Bundesregierung sorgt bei Bürgern und Unternehmen für zusätzliche Verunsicherung. Der vom grünen Wirtschaftsminister durchgedrückte Beschluss gegen eine Verlängerung der AKW-Laufzeiten, der Wahltaktik und Ideologie über nationale Interessen und Notwendigkeiten stellt, wird sich spätestens im Falle von Blackouts als fatale Fehlentscheidung mit unabsehbaren Konsequenzen erweisen. Vielen Berliner Akteuren ist offenbar politische 'Haltung' wichtiger als pragmatische Problemlösungen zur vorbeugenden Bekämpfung und Vermeidung enormer Risiken. Mit seiner vor über 100 Jahren formulierten Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik bei Berufspolitikern würde sich Max Weber heute wohl voll bestätigt fühlen."

„Äußerst angespannt“

Die Entscheidung der Ampelregierung, trotz der absehbaren Energie-Engpässe die drei letzten deutschen Atomkraftwerke zum Jahresende abzuschalten, hat im In- und Ausland für Ratlosigkeit gesorgt. Daran ändert auch die Ankündigung, die beiden süddeutschen Meiler bis März 2023 in Notreserve zu halten, nichts. Das dritte AKW in Lingen ist offensichtlich aus dieser Regelung ausgenommen worden, weil der grüne Wirtschaftsminister seine Parteifreunde vor der Niedersachsen-Wahl nicht überfordern wollte. Habeck hat bereits verkündet, dass es in dieser Legislaturperiode definitiv keine Verlängerung der AKW-Laufzeiten geben werde. Und sein Parteifreund Trittin, der Vater des deutschen Atomausstiegs, hat mit nahezu päpstlichem Unfehlbarkeitsanspruch zur Laufzeit der Notfallreserve erklärt: „Drei Monate. Mehr nicht!“ Wie leichtfertig hier Wahltaktik und Ideologie über nationale Interessen und Notwendigkeiten zur Krisenbewältigung gestellt werden, dürfte in der Geschichte der Bundesrepublik einzigartig sein. Ein Stresstest des deutschen Stromsystems kommt zu dem Schluss, dass sich die Versorgungssituation in allen Szenarien als „äußerst angespannt“ darstelle. Der TÜV hält fest: „Die drei laufenden Kernkraftwerke können die derzeit schwankende Energieerzeugung aus Wind und Sonne kurzfristig ausgleichen, das Stromnetz stabil halten.“ Dennoch beschließt die Bundesregierung trotz der absehbaren Notstandssituation sehenden Auges, auf die Atomkraft, die derzeit immerhin noch 6 % der Stromproduktion ausmacht, zu verzichten. Das ganze Ausmaß an Scheinheiligkeit zeigt sich angesichts der Bereitschaft, auch künftig Atomstrom aus europäischen Nachbarländern wie Frankreich zu beziehen.

„Absolut unverständlich“

Kritisch bewertet auch Prof. Veronika Grimm, Mitglied des Sachverständigenrates der Bundesregierung, die energiepolitischen Entscheidungen. Die Ökonomin stellt fest: „Dass die AKWs nur in Reserve gehalten werden sollen, ist bei der kritischen Lage am Strommarkt absolut unverständlich. Es muss ja auch mit Blick auf das Preisniveau sämtliche verfügbare Kapazität mobilisiert werden.“ Dazu gehörten die Kohlekraftwerke, aber auch die Atomkraftwerke. Die Meiler sollten laufen und nicht nur in Bereitschaft verharren, wie es aktuell geplant ist. Denn nur dann gebe es einen senkenden Effekt auf den Strompreis. Bei der aktuellen Lösung entstünden hingegen nur Kosten, aber der Nutzen würde nicht realisiert. Aus Grimms Sicht sollte „bei den drei noch laufenden AKWs über eine Laufzeitverlängerung von fünf Jahren“ nachgedacht werden. Auch sollte geprüft werden, ob Kraftwerke reaktiviert werden können, die kürzlich erst stillgelegt wurden.

„Öko-Sozialismus“

Als „völlig verrückt“ hat ifo-Chef Clemens Fuest die Linie der Bundesregierung bei der Abkehr von der Atomkraft „mitten in einer gewaltigen Stromkrise“ bezeichnet. Von einem Weiterbetrieb der Kernkraftwerke würden Europa und auch Deutschland sehr profitieren. Für die Stabilität der Stromversorgung in ganz Europa sei der Weiterbetrieb der Kernkraftwerke wichtig. Die jetzt beschlossene Abschaltung sei vom europäischen Standpunkt unsolidarisch. Der tschechische EU-Abgeordnete Vondra moniert: „Der deutsche Atom-Ausstieg ist ein Desaster für Europa. Scholz und Habeck sorgen damit nicht nur dafür, dass die Deutschen mit immer weiter steigenden Energiepreisen leben müssen, sie begehen auch Verrat an ihren Nachbarländern, die auf deutsche Energie dringend angewiesen sind.“ Das Magazin 'Cicero' sieht die Gefahr, dass es auf Grundlage von Habecks Atomkraft-Plänen „mit Volldampf in den Öko-Sozialismus“ gehe. Chefredakteur Alexander Marguier kommentiert: „Der ‚Klimaschutzminister‘ will zwei Atomkraftwerke in ‚Einsatzreserve‘ halten – und damit den Strompreis weiter erhöhen. Seine Vorschläge wirken angesichts der bevorstehenden Wirtschaftskrise geradezu bizarr und sorgen entsprechend für Empörung sogar innerhalb der Ampel-Koalition. Dabei handelt Habeck durchaus konsequent: Es geht ihm und seiner Partei um die Transformation Deutschlands in eine obrigkeitsstaatliche Öko-Republik.“

„Irrsinn stoppen“

Auch der Oppositionsführer hat der Ampelregierung im Bundestag massives Versagen in der Energiekrise vorgeworfen. Er forderte den Bundeskanzler auf, „diesen Irrsinn zu stoppen“, solange man dafür noch Zeit habe. Der aktuellen Wirtschaftspolitik fehle „jede Fähigkeit zum politisch-strategischen Denken“. Zuvor hatte Merz in einem Interview angemerkt: „Herr Habeck hat um sich herum im Ministerium und in seiner Partei eine Gruppe von harten, grünen Ideologen, die – koste es, was es wolle – aus den fossilen Energien und aus der Atomenergie aussteigen wollen.“ Merz kritisierte auch die geplante Stilllegung des AKW Emsland: „Die Grünen in der Ampel in Berlin sind ganz offensichtlich von den Grünen in Niedersachsen unter Druck gesetzt worden, das Kernkraftwerk Emsland gegen alle Vernunft abzuschalten. Der Scholz-Regierung scheinen grüne Befindlichkeiten wichtiger zu sein als das Risiko eines Stromausfalls. Für solch ein Roulette-Spiel mit unserer Energieversorgung habe ich absolut kein Verständnis.“

Existenzielle Bedrohung

Während im Berliner Polit-Treibhaus absurde Realitätsverweigerung statt überfälliger Problemlösung das Geschehen bestimmt, haben die Ausläufer der drohenden Versorgungs-Katastrophe die Unternehmen längst erreicht. Immer mehr Firmen sehen sich durch die explodierenden Energiekosten massiv gefährdet. Bei einer Umfrage des Industrieverbandes BDI haben 58 % der Betriebe die Lage als starke Herausforderung bezeichnet, 34 % als existenzielle Bedrohung. Fast jedes zehnte Unternehmen hat die Produktion bereits gedrosselt oder sogar unterbrochen. Beinahe ein Viertel aller Betriebe denkt darüber nach, Fertigung und Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern. Auch auf das Handwerk rollt – laut ZDH – infolge der Energiekrise eine Insolvenz-Welle zu. Die Dynamik der Pleiten sei „viel schlimmer als in den Hochphasen der Corona-Pandemie“. Das habe die Bundesregierung allerdings „noch gar nicht auf dem Schirm“.

Der DIHK fordert die Politik auf, angesichts der Notlage vieler Unternehmen für ausreichend Energie zu sorgen. Es bestehe die Angst, ab Januar 2023 keine Versorgungsverträge mehr zu bekommen. Und der Mittelstandsverband BVMW reklamiert die von der Ampel angekündigten Hilfen für kleine und mittlere Unternehmen. Bei diesen Maßnahmen handele es sich nicht um ein Entlastungs-, sondern um ein Umverteilungspaket. Erforderlich seien Liquiditätshilfen und bürokratische Entlastungen. Erste Insolvenzen von auch namhaften Firmen zeigen, dass die von den Verbänden vorgetragenen Sorgen alles andere als unbegründet sind. Nur am Rande: Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) hat seine Konjunkturprognose für 2023 drastisch abgesenkt. Statt eines zuletzt angenommenen Wirtschaftswachstums um 3,3 % soll das BIP aus jetziger Sicht um 0,7 % schrumpfen. Folglich werde die deutsche Wirtschaft erneut in eine Rezession abgleiten.

„Vertrauensverlust“

Fast jedes zweite Unternehmen will in den nächsten drei Monaten die Preise erhöhen. Damit wird sich die Preisspirale – nach ifo-Einschätzung – weiter beschleunigen. Ein Auslaufen der Inflationswelle sei nicht in Sicht. Deutschland lag im August mit einer Teuerungsrate von 7,9 % unter der durchschnittlichen Inflation im Euroraum, die auf eine Rekordmarke von 9,1 % gestiegen ist. All das belastet das Konsumverhalten und führt zu einem Rückgang der Wirtschaftsleistung im zweiten Halbjahr 2022. Das neue Entlastungspaket der Bundesregierung wird – laut ifo – nicht ausreichen, um eine Rezession zu verhindern. Die Wahrung der Geldwertstabilität obliegt bekanntlich der EZB, die derzeit in einem selbst verschuldeten Zielkonflikt agiert: Einerseits sind deutliche Zinserhöhungen – wie die jüngste Anhebung von 0,50 % auf 1,25 % – zur Inflationsbekämpfung unvermeidlich, andererseits werden exakt dadurch die Rezessions-Tendenzen in Europa deutlich verstärkt. Außerdem ist eine neue Euro-Krise nicht auszuschließen. Wie kurzlebig und mitunter janusköpfig die Entscheidungsfindung in der Führungsetage der EZB sein kann, zeigt das Beispiel des deutschen Direktoriumsmitglieds Isabel Schnabel. Hatte die Ökonomin doch im Juli 2021 vollmundig angekündigt, dass „die Inflationstreiber im Laufe des Jahres 2022 zurückgehen werden und die Teuerung mittelfristig unter dem EZB-Ziel um 2 % liegen wird“. Ende August 2022 musste Schnabel beim Notenbank-Forum in Jackson Hole eingestehen, dass „die hohe Inflation für viele Bürger zu einer großen Sorge geworden“ sei. Die Notenbanken müssten sich jetzt „mit Nachdruck gegen einen Vertrauensverlust der Bürger in unser Geldsystem stemmen“. Rückblickend ist zu vermuten, dass die vom Wunschdenken getragenen Stabilitätsparolen aus dem vergangenen Jahr auf die Bürger nicht gerade vertrauensbildend gewirkt haben.

Die Lasten der Bürger

In kaum einem anderen Land greift der Fiskus den Menschen und Unternehmen so tief in die Taschen wie in Deutschland. Das belegt ein internationaler Vergleich der Abstände zwischen den Arbeitskosten der Firmen und den Nettolöhnen der Arbeitnehmer, den der österreichische Thinktank Neos Lab durchgeführt hat. Dabei wurden steuerliche Abzugs- und Freibeträge ebenso berücksichtigt wie Unterschiede in der Kaufkraft der Länder. Malte Fischer kommentiert das Ergebnis der Studie in der 'Wirtschaftswoche' so: „Die Berechnungen zeigen, wie sehr der Staat in Deutschland mit seinen Steuern und Abgaben den Produktionsfaktor Arbeit für die Unternehmen verteuert und den Bürgern zugleich die finanzielle Luft zum Atmen nimmt. Von 63.173 Euro, die ein Durchschnittsverdiener hierzulande seinen Arbeitgeber im Jahr kostet, bleiben ihm lediglich 32.790 Euro als Nettoeinkommen zum Leben übrig. Fast die Hälfte des gesamten Gehalts geht an den Fiskus. In keinem anderen Land Europas außer Belgien greift der Staat derart unverschämt auf das Einkommen der Bürger zu. Selbst in dem Hochsteuerland Frankreich bleibt den Bürgern mehr Netto vom Brutto übrig. Der Abgabenkeil beläuft sich dort auf knapp 27.000 Euro. In Deutschland liegt er bei knapp 30.400 Euro. Will die Bundesregierung die Bürger angesichts der hohen Inflation wirklich nachhaltig entlasten, sollte sie statt Almosen zu verteilen, die Staatsausgaben, Steuern und Abgaben kräftig senken und den Erwerbstätigen mehr Netto vom Brutto lassen. Schließlich sind es die Erwerbstätigen, die mit ihrem Fleiß und ihrer Leistung den Wohlstand erwirtschaften, nicht der Staat mit seinen Hilfs- und Rettungspaketen.“

Wenn „Haltung“ regiert …

Politische Initiativen der Neuzeit stützen ihre Sinnhaftigkeit und Existenzberechtigung regelmäßig auf angeblich „höhere“ moralische Werte und Ziele. Prototypisch für diese Bewegungen ist die absolute Selbstgewissheit, stets auf der guten und richtigen Seite zu stehen. Diese 'Selbstsicherheit' enthebt die Vorkämpfer von der lästigen Verpflichtung, sich und ihre Programme zur kritischen Diskussion stellen zu müssen. Der Vorab-Respekt, der eigentlich unstrittigen Einrichtungen wie dem Roten Kreuz oder dem Tierschutz vorbehalten ist, wird kommunikativ gekapert zur stilisierenden Überhöhung der eigenen Initiative. Die richtige „Haltung“ ist mittlerweile in vielen Kreisen nicht nur ein Akzeptanz-Kriterium, sondern auch eine Art Mitgliedsausweis, der Zutritt verschafft zu gesellschaftlicher Anerkennung und politischer Karriere. Der ideologische Überbau mit Unfehlbarkeitsanspruch sorgt im Medienzeitalter für Akzeptanz, Zustimmung und weitgehende Unangreifbarkeit. Die 'FAZ' merkt mit Blick auf die merkwürdigen Eskapaden des derzeitigen Wirtschaftsministers an: „Grün ist in erster Linie immer noch ein Lebensgefühl. Wer auf der richtigen Seite steht, kann sich alles erlauben.“ Offensichtlich mangelt es diesem Land nicht an Haltung, sondern an Kompetenz und Weitblick.


Verfasst von: Dietrich W. Thielenhaus | Kommentare (0)

Gastkommentar


Als Gastkommentar gekennzeichnete Texte geben nicht notwendigerweise die Meinung der Redaktion wieder.
Zurück zum Blog

Kommentar verfassen

Bitte beachten Sie bei Ihren Kommentaren unsere Netiquette