Freitag, 21. Januar 2022

Bundesverfassungsgericht lehnt Verfassungsbeschwerde gegen das Thüringer Paritätsgesetz ab

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Am 18. Januar hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) einen Beschluss vom 6. Dezember 2021 veröffentlicht, der es in sich hat. Es geht um die Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Thüringer Verfassungsgerichtshofes vom 15. Juli 2020, mit dem dieser das Thüringer Paritätsgesetz für verfassungswidrig erklärt hatte. Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde erst gar nicht zur Entscheidung angenommen, die Ablehnung allerdings mit einer ausführlichen Begründung versehen.

Das Thüringer Paritätsgesetz hatte der Landtag am 5. Juli 2019 beschlossen. In ihm war geregelt, dass die Landeslisten der Parteien zur Wahl abwechselnd mit Frauen und Männern zu besetzen seien, „wobei der erste Platz mit einer Frau oder einem Mann besetzt werden kann. Personen, die im Personenstandsregister als 'divers' registriert sind, können unabhängig von der Reihenfolge der Listenplätze kandidieren. Nach der diversen Person soll eine Frau kandidieren, wenn auf dem Listenplatz vor der diversen Person ein Mann steht; es soll ein Mann kandidieren, wenn auf dem Listenplatz vor der diversen Person eine Frau steht.“

Die AfD-Fraktion im Thüringer Landtag klagte anschließend erfolgreich dagegen vor dem Thüringer Verfassungsgerichtshof. Der begründet seine Entscheidung damit, mit dem Gesetz werde „in verfassungsrechtlich verbürgte subjektive Rechte eingegriffen“, ohne dass dieser Eingriff auf eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung gestützt werden könne. Mit dem Paritätsgesetz würden „die Freiheit der Wahl“ sowie „das Recht der passiven Wahlfreiheit“ eingeschränkt. Zudem werde die Gleichheit der Wahl verletzt, ohne dass sich dem geltenden Verfassungsrecht Anhaltspunkte dafür entnehmen ließen, „dass die verfassungsgesetzlich garantierte Gleichheit der einzelnen Bürgerinnen und Bürger durch Vorstellungen einer auf die Geschlechtergruppen bezogenen Gleichheit zu ersetzen seien“.

Das Demokratieprinzip könne das „Paritätsgesetz nicht rechtfertigen“. Ein Gebot, wonach die tatsächliche Widerspiegelung der in der Wählerschaft vorhandenen Meinungen im Parlament eine paritätische Listenaufstellung erfordere, sei dem deutschen Verfassungsrecht fremd. Dem in Art. 20 Abs. 2 GG und Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltenen Prinzip der Repräsentation sei ein Organisationsmodell zu entnehmen, welches dem Volk die maßgebliche Bestimmungsmacht über die staatliche Gewalt verschaffen solle. Nach diesem Prinzip vertrete jede und jeder Abgeordnete das gesamte Volk und sei diesem gegenüber verantwortlich; die Abgeordneten repräsentierten das Volk in ihrer Gesamtheit, nicht als Einzelne.

Dieses Verständnis demokratischer Repräsentation liege auch dem Thüringer Verfassungsrecht zugrunde. Für die Frage, ob Frauen aufgrund tatsächlicher Gegebenheiten diese Rechte weniger wahrnehmen wollten oder könnten und der Gesetzgeber Maßnahmen ergreifen dürfe oder sogar müsse, um diese Gegebenheiten zu verändern, sei die Sicherung des Charakters der Wahl als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes irrelevant. Schließlich könne auch das in der Thüringer Verfassung verankerte Gleichstellungsgebot die mit dem Paritätsgesetz einhergehenden Beeinträchtigungen nicht rechtfertigen.

Das BVerfG hat die dagegen erhobene Verfassungsbeschwerde der insgesamt 20 Beschwerdeführer – zur Landtagswahl Wahlberechtigte und zum Teil Parteimitglieder sowie potenzielle Kandidatinnen und Kandidaten einer Landesliste – nicht zur Entscheidung angenommen, weil ihr keine grundsätzliche Bedeutung zukomme und sie keine Aussicht auf Erfolg habe. Das BVerfG moniert, die Beschwerdeführer hätten sich unzureichend mit seiner Rechtsprechung zu den getrennten Verfassungsräumen von Bund und Ländern auseinandergesetzt und die Möglichkeit einer Verletzung der im Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen die wahlrechtliche Entscheidung eines Landesverfassungsgerichts rügefähigen Grundrechte nicht hinreichend dargelegt.

Der Rückgriff auf das Demokratieprinzip reiche für sich genommen zur Darlegung eines Eingriffs in subjektive rügefähige Rechte der Beschwerdeführer nicht aus. Auch die Möglichkeit einer Verletzung des Anspruchs auf Gleichberechtigung sei nicht hinreichend substantiiert ausgeführt. Schließlich genüge der Sachvortrag der Beschwerdeführer den Anforderungen an die Begründung einer Missachtung des allgemeinen Willkürverbots oder eines Eingriffs in die Garantie des gesetzlichen Richters nicht.

Nach dem Wortlaut Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG handele es sich beim Demokratiegebot um eine objektiv-rechtliche Gewährleistung, hingegen nicht um ein subjektives Grund- oder grundrechtsgleiches Recht. Die Behauptung der Beschwerdeführer, aus ihm folge ein rügefähiger „Anspruch auf Demokratie“, hätte näherer Begründung bedurft. Das BVerfG betont, die Beschwerdeführer hätten nur unzureichend dargelegt, warum nur die paritätische Vertretung der Bürgerinnen und Bürger den Anforderungen der repräsentativen Demokratie im Sinne von Art. 20 Abs. 1 GG genüge. Eine Auseinandersetzung mit dem aus dem Demokratieverständnis des Grundgesetzes abgeleiteten Grundsatz der Gesamtrepräsentation fehle.

Nach diesem Repräsentationsverständnis, das der Thüringer Verfassungsgerichtshof seiner Entscheidung zugrunde gelegt habe, beinhaltet das „freie Mandat“ jedes Abgeordneten „eine Absage an alle Formen einer imperativen, von regionalen (Länder, Wahlkreise) oder gesellschaftlichen Gruppen (Parteien, Unternehmen, Gewerkschaften, Volksgruppen, Verbänden, Alters- oder Geschlechtergruppen) ausgehenden inhaltlichen Bindung des Abgeordneten bei der Wahrnehmung seines Mandats“. Seien die einzelnen Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden, komme es für die Vertretung des Volkes gerade nicht darauf an, dass sich das Parlament als verkleinertes Abbild des Elektorats darstellt.

Die Beschwerdeführer hätten daher darlegen müssen, „warum nur die paritätische ‘Spiegelung’ der weiblichen Wahlbevölkerung dem grundgesetzlichen Demokratieverständnis oder aber dem Verständnis demokratischer Repräsentation nach der Thüringer Landesverfassung“ Rechnung tragen würde. Dass die Möglichkeit effektiver Einflussnahme auf die parlamentarische Willensbildung die hälftige Verteilung der Mandate zwischen den Geschlechtern voraussetze, sei nicht ohne Weiteres ersichtlich. Die Hinweise der Beschwerdeführer, das Wahlvolk bestehe im Kern aus zwei elementaren Gruppen, Männern und Frauen, und Frauen seien in den Parlamenten faktisch unterrepräsentiert, genüge als Beweis nicht.

Ebenso wenig reichte dem BVerfG hierfür das Vorbringen, „eine effektive Einflussnahme von Frauen auf parlamentarische Entscheidungen sei nur bei deren hälftiger Vertretung im Parlament gewährleistet“. Sonstige Gründe für die verfassungsrechtliche Unhaltbarkeit des Grundsatzes der Gesamtrepräsentation seien von den Beschwerdeführern nicht aufgeführt. Die Möglichkeit einer rügefähigen Verletzung des Rechts auf Gleichberechtigung aus Art. 3 Abs. 2 GG hätten die Beschwerdeführer ebenfalls nicht in ausreichendem Umfang aufgezeigt.

Die Entscheidung der 1. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG ist mehr als erfreulich und sollte zur Beruhigung der Diskussion über Paritätsgesetze beitragen. Ob allerdings die Befürworter der Paritätsgesetze dies auch so sehen, ist eher unwahrscheinlich. Für uns bleibt dagegen fraglich, warum Parlamente verfassungsrechtlich nicht paritätisch besetzt werden müssen, Unternehmen ab einer bestimmten Größe offenbar aber schon. Denn auch für Unternehmen sollte gelten, dass in einem Vorstand oder Aufsichtsrat die Männer nicht nur für die Männer im Unternehmen entscheiden und die Frauen nicht nur für die Frauen, sondern die Gremien insgesamt für das Unternehmen. Und das heißt nicht, dass eine stärkere Vertretung von Frauen in den Parlamenten oder den Unternehmen deshalb unerwünscht wäre!


Verfasst von: Frank Schweizer-Nürnberg | Kommentare (0)

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