Dienstag, 29. Juni 2021

EU auf dem Weg in die Schuldenunion

Kommentar | Kommentare (0)

Ein Gastkommentar von DIETRICH W. THIELENHAUS

EU-Institutionen sind dabei, die große politische Idee der europäischen Einheit durch immer neue Vertragsbrüche, Manipulationen, Desinformationen und andere Fisimatenten nachhaltig zu beschädigen. Das gilt insbesondere für die EU-Kommission, die EZB und den Europäischen Gerichtshof, die vor allem aus deutscher Sicht viel Vertrauen und Glaubwürdigkeit verspielt haben. Im Fokus der Kritik steht die Methode, durch die systematische Anmaßung weiterer Kompetenzen unter Umgehung der national zuständigen Institutionen zusätzliche Macht nach Brüssel zu verlagern. Derzeit ist dieses Dreigestirn offenbar dabei, mit verteilten Rollen die finalen Weichen zur vertragswidrigen und vor allem für Deutschland brandgefährlichen Schuldenunion zu stellen. Dieses verdeckte Schlaraffenland-Projekt wird naturgemäß vor allem von den südlichen Schuldenländern protegiert. Bis vor etwa zwei Jahren galt der Widerstand gegen den direkten EU-Zugriff auf deutsche Steuergelder als in Stein gemeißelt. Nach den Wahlen wird auch in dieser Frage die Stunde der Wahrheit kommen.

„Goldene Kreditkarte“

Die Forderungen der Deutschen Bundesbank im elektronischen EU-Verrechnungssystem 'Target 2' gegenüber anderen Notenbanken sind im Mai um rund 52 Mrd. auf 1,077 Billionen Euro gestiegen. Erstaunlicherweise findet diese massive Gefährdung des Standorts Deutschland in der öffentlichen Diskussion und Meinungsbildung kaum noch Beachtung. Offensichtlich ist 'Target 2' seit seiner 2008 erfolgten Etablierung vom Zahlungsverkehrssystem zu einem – so die FAZ bereits im Jahr 2018 – „gigantischen Überziehungskreditsystem mutiert“. Es handele sich dabei um „ein verdecktes Euro-Rettungsprogramm jenseits demokratischer Kontrolle“. Der Ökonom Hans-Werner Sinn hat das System schon vor Jahren als „goldene Kreditkarte“ der Schuldenländer bezeichnet. Letztlich gehe es um eine Umschuldung für die Krisenstaaten. Sollte die Währungsunion auseinanderbrechen, seien die deutschen Forderungen de facto uneinbringlich. Auch wenn einzelne Staaten aus dem Euro austreten würden, bleibe Deutschland auf den anteiligen Verlusten sitzen. Dadurch sei die Bundesrepublik erpressbar geworden. Absurderweise sieht das Target-Verfahren bisher keinerlei Absicherung der Verbindlichkeiten vor. Dieses naheliegende Thema ist merkwürdigerweise nie auf die Tagesordnung der EU-Institutionen gelangt. Die verschiedenen Bundesregierungen haben offenbar diesen zentralen Konstruktionsfehler nicht erkannt oder nicht erkennen wollen. Vor dem Hintergrund dieser mittlerweile fast ausweglosen Situation bei der Target-Verschuldung hat Hans-Werner Sinn jetzt vorgeschlagen, den betroffenen Notenbanken einen Teil ihrer Target-Schulden zu erlassen und dann ein grundlegend reformiertes Eurosystem zu starten, bei dessen Konstruktion man aus den Fehlern des alten Systems lernt. Generell seien temporäre Salden bis zu 100 Mrd. zu akzeptieren. Alles, was darüber hinaus gehe, sollten die Defizit-Notenbanken durch die Hergabe von marktfähigen und nicht durch Kaufaktionen des Eurosystems gestützten Vermögenswerten tilgen. Da einige Defizit-Notenbanken über beachtliche Goldbestände verfügen, sei die Einführung einer Goldtilgung der beste Weg. Leider dürfte auch dieser aus deutscher Sicht volkswirtschaftlich überzeugende Reformvorschlag zur Rettung dessen, was überhaupt noch zu retten ist, von der diesbezüglich wenig ambitionierten Bundesregierung nicht aufgegriffen werden. Man scheut offenbar davor zurück, sich bei den Schuldenländern unbeliebt zu machen, die sich an die Vorteile einer fiskalischen Selbstbedienung mit Hilfe der „goldenen Kreditkarte“ gewöhnt haben.

Fatale Wirkung von Negativzinsen

EZB-Chefin Lagarde hat Negativzinsen als ein „effektives Instrument der Geldpolitik“ gelobt. Sie belasteten zwar die Sparer, doch davon seien in der Eurozone nur 5 % der Guthaben betroffen. In Deutschland sei der Anteil der betroffenen Einlagen allerdings doppelt so hoch, was an der höheren Sparbereitschaft der Bundesbürger liege. Dass der fatale Zangengriff von Strafzinsen und Inflation die deutschen Anleger schon in diesem Jahr um über 3 % enteignen dürfte, war für Lagarde kein Thema. Malte Fischer (Wirtschaftswoche) untersucht in einem lesenswerten Beitrag die Wirkung von Negativzinsen als „gigantische Umverteilungsmaschine zwischen den Banken im Norden und Süden der Eurozone“. Er stützt sich dabei auf eine neue Studie, der zufolge die deutschen Institute 2020 das Gros der Belastungen zu tragen hatten, während die italienischen, spanischen und portugiesischen Banken relativ wenig geschröpft worden sind. Die Negativzinspolitik der EZB verfolgt aus Fischers Sicht die Absicht, „mit Hilfe der Geldpolitik jenseits demokratischer Legitimations- und Kontrollmechanismen Wohlstand von Nord- nach Südeuropa zu schaufeln und so die Eurozone zu einer gigantischen Umverteilungsunion umzumodeln“.

Die ultimative Machtfrage

Weil das Bundesverfassungsgericht es wagte, die Zulässigkeit der EZB-Anleihenkäufe anzuzweifeln, hat die EU-Kommission ein formelles Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik eröffnet. Der CSU-Politiker Peter Gauweiler warnt die Bundesregierung „vor einem Kuhhandel mit Brüssel“ und kündigt eine Verfassungsbeschwerde an. Die Regierung müsse diese erneute Kompetenzüberschreitung der EU-Kommission „ausnahmslos zurückweisen“. Das Bündnis Bürgerwille e.V. meint, die EU-Kommission stelle mit diesem Vertragsverletzungsverfahren „die ultimative Rechts- und Machtfrage in der EU“. Damit solle den nationalen Verfassungsgerichten die Möglichkeit genommen werden, gegen übergriffiges Verhalten von EU-Institutionen zumindest dann noch einzuschreiten, wenn davon der Identitätskern der nationalen Verfassung verletzt werde. Die vier Staats- und Verfassungsrechtler Degenhart, Horn, Kerber und Murswiek, die als Prozessvertreter beim Bundesverfassungsgericht agieren, sprechen von „einem Angriff auf die Souveränität der EU-Staaten“. Die Bundesregierung müsse die grundgesetzliche Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts uneingeschränkt verteidigen, ansonsten handele sie verfassungswidrig.

„Next Generation EU“

Ursula von der Leyen war im Juni auf Europa-Tour, um – so die FAZ – als „gütige Gabenbringerin aus Brüssel“ den Regierungen die Genehmigungen der jeweiligen Wiederaufbaupläne zu überreichen. Die FAZ merkt an: „In Wahrheit inszenierte sich von der Leyen als Wohltäterin, die all überall Geld aus ‚Europa‘, also dem EU-Aufbaufonds, verteilt.“ In Berlin ließ die Präsidentin der EU-Kommission nicht gerade überraschend wissen, es gebe grünes Licht für die deutschen Absichten. In Brüssel pfeifen die Spatzen von den Dächern, dass die Pläne der Länder nicht gerade übermäßig streng geprüft worden sind. Außerdem kündigte die Präsidentin öffentlichkeitswirksam an, bis 2026 würden 28,6 Mrd. Euro „nach Deutschland fließen“. Diese Botschaft werden die abendlichen Tagesschau-Empfänger als herzerwärmend empfunden haben. Den wenigsten Zuschauern dürfte allerdings bekannt sein, dass Deutschland zunächst über 90 Mrd. nach Brüssel überweisen muss, um dann nach einem komplizierten Verteiler die besagten 28,6 Mrd. zurückzuerhalten. Also beim besten Willen kein wirklich gutes Geschäft. Die Bundesrepublik darf sich hier erneut als der mit Abstand größte Nettozahler engagieren. Interessant ist die Verteilung der „Wiederaufbau“-Gelder, die unter dem blumigen Motto „Next Generation EU“ erfolgt. Sicherlich kein Zufall ist, dass die notorischen Schuldenländer ganz oben auf der Empfängerliste stehen. So erhält Italien mit 191,3 Mrd. Euro mehr als das Sechsfache des deutschen Betrags. Es folgen Spanien (141,1 Mrd.), Polen (60,1 Mrd.), Frankreich (45,0 Mrd.) und Belgien (35,9 Mrd.). Der Focus kommentiert: „Den mit 750 Mrd. Euro ausgestatteten EU-Wiederaufbau-Fonds verstehen nicht alle, aber viele Länder als Einladung zur Selbstbedienung – zumal ein Gutteil der Gelder nicht zurückgezahlt werden muss.“ Und die Südwest Presse stellt unter der Überschrift „Riskante Scheckbuch-Tour“ fest: „Manche EU-Staaten nutzen das Geld, um Haushaltslöcher zu stopfen. Das Vertrauen in die EU steht auf dem Spiel.“ Diese Hintergründe und Zusammenhänge fanden in den öffentlich-rechtlichen Nachrichten genau so wenig Erwähnung wie die vom Bundesrechnungshof beanstandeten, zusätzlichen Haftungsrisiken in dreistelliger Milliardenhöhe aus der gemeinsamen Corona-Schuldenaufnahme.

Politische Doppelzüngigkeit

Der österreichische Finanzminister will in der EU eine „Allianz der Verantwortung“ bilden. Er sieht die Eurozone auf dem Weg in die Schuldenunion. Als strategische Partner sieht er fiskalpolitisch ähnlich gesonnene Länder wie die Niederlande sowie skandinavische und baltische Staaten. Aus Deutschland liegt allerdings noch keine Antwort auf seinen Initiativbrief vor. Blümel hofft, das Nachbarland an Bord holen zu können. „Deutschland ist eines der wichtigsten Länder in Europa und in der Euro-Zone, und was die Bundesregierung sagt, hat in Europa großes Gewicht. Deshalb werbe ich sehr bei meinen deutschen Partnern für unsere Position. Da werden jetzt schon Pflöcke eingeschlagen. Wenn Merkel jetzt die Schuldenregeln aufgibt, ist das ein schwarzer Tag für Europa.“ Der CDU-Wirtschaftsrat hat gefordert, diese Allianz zu unterstützen. Dagegen hat der deutsche Finanzminister schon vor Monaten durchblicken lassen, dass er sich die gemeinsame EU-Schuldenaufnahme auch als Dauerlösung vorstellen könne. Die Bundeskanzlerin hat es vermieden, hier im Sinne ihrer Richtlinienkompetenz eine korrigierende Position zu beziehen. Im kürzlich vorgestellten CDU-Wahlprogramm heißt es, die Partei lehne es „weiterhin ab, mitgliedsstaatliche Schulden oder Risiken zu vergemeinschaften“, obwohl genau das im Wiederaufbau-Fonds praktiziert wird. Hier offenbart sich eine politische Doppelzüngigkeit, die sich verliert im Spannungsfeld zwischen Sein und Schein, zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Im nächsten Jahr wird sich zeigen, ob das Versprechen, eine Schuldenunion zu verhindern, mehr war als ein wahltaktisches Manöver.

Wählerwünsche

ifo-Präsident Clemens Fuest verlangt von der nächsten Regierung wirtschaftspolitische Reformen. In der Steuer- und Finanzpolitik gelte es, die Bedingungen für private Investitionen zu verbessern und öffentliche Investitionen zu fördern. Der Verband der Familienunternehmer warnt vor einer Wiedereinführung der Vermögenssteuer, die Firmen und Inhaber schwäche sowie Rücklagen und Investitionskapital verzehre. Mit Blick auf die sehr ambitionierten Initiativen zur Klimapolitik betont der Verband, dass eine preislich vertretbare, sichere Energieversorgung wesentliche Voraussetzung für internationale Wettbewerbsfähigkeit sei. Und der Top-Manager Wolfgang Reitzle sieht in Deutschland starke Tendenzen zu planwirtschaftlichen Ansätzen. Zu befürchten sei, dass „zunehmend faktenfrei Themen gesetzt werden, die dann mit vermeintlich einfachen Lösungen bedient werden“. Bestes Beispiel sei das angebliche Allheilmittel des batteriebetriebenen Elektroautos. Der Verbrennungsmotor sei das Böse, also müsse er abgeschafft werden. Würde man stattdessen das Thema technologieoffen angehen, so könne man es ja mal mit der Förderung synthetischer Kraftstoffe probieren. Solche Alternativen würden aber gar nicht mehr beachtet, weil sie sich politisch nicht so schön vermarkten ließen. Reitzle weiter: „Es geht also offensichtlich weniger ums Klima, dem ich übrigens auch helfen will, sondern um Ideologie. Um Schwarz-Weiß-Kategorien, um Gut und Böse. Das wird leider auch den deutschen Wahlkampf bestimmen. Und unser Strom wird noch schmutziger, wenn nächstes Jahr unsere letzten Kernkraftwerke abgeschaltet werden.“

Fass ohne Boden?

Um mehr als die Hälfte ist die deutsche Sozialleistungsquote seit 1970 gestiegen. Der Publizist Gabor Steingart beschreibt die schleichende Sozialisierung so: „Die Sozialpolitiker aller Parteien reden den Menschen ein, es sei genug Geld für alle da. Man müsse sich nicht anstrengen, nur wie Sterntaler das Hemdchen schürzen. Genug ist nie genug, wie die Expansionsgeschwindigkeit aller Sozialausgaben zeigt. Das Wappentier des Sozialstaates ist die Raupe Nimmersatt. Vermittelt über die verzweigten Kanäle des Sozialversicherungssystems kommt es zu einer Umverteilung von finanziellen Ressourcen im großen Stil, die erst dann ihr natürliches Ende findet, wenn die Ressourcen aufgebraucht und die Schatzkammern des Landes geplündert sind. Der exzessive Sozialstaat ist nicht weniger gierig als der exzessive Kapitalismus. Auch er steuert in seiner ihm immanenten Maßlosigkeit auf einen Kipppunkt zu: Ohne Trendumkehr werden die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bald die Hälfte ihres Einkommens an den Sozialstaat überweisen müssen“.

Der Unternehmer Dietrich W. Thielenhaus  kommentiert aktuelle Entwicklungen in Politik und Wirtschaft.


Verfasst von: Dietrich W. Thielenhaus | Kommentare (0)

Zurück zum Blog

Kommentar verfassen

Bitte beachten Sie bei Ihren Kommentaren unsere Netiquette