Montag, 15. Januar 2024

Ein Land im Protest

Gastkommentar von Dietrich W. Thielenhaus
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Der gesellschaftliche Grundkonsens, die bewährte Basis von Demokratie und Wohlstand, scheint abhanden zu kommen. Das neue Jahr könnte zu einem Fanal des Umbruchs werden, der geprägt ist von bundesweitem Protest und Widerstand. Der Ampel-Koalition bleibt nicht mehr viel Zeit, um die drängenden Probleme anzupacken und zu lösen. Dabei kann das Rezept nur lauten: nüchterner Sachverstand statt Ideologie und Wunschdenken.

Spitze des Eisbergs

In nur zwei Jahren hat es die amtierende Bundesregierung geschafft, ein ganzes Land gegen sich aufzubringen. Die bundesweit heftigen Protestaktionen der Bauern lassen erahnen, welche Dimensionen organisierter Widerstand annehmen könnte. Gleichwohl stellen sie nur die Spitze des Eisbergs dar. Es gärt und brodelt in fast allen Bevölkerungsgruppen. Hauptursächlich ist die völlig verfehlte Haushalts-, Energie- und Klimapolitik, die durch fatale Inkompetenz der Berliner Akteure verschärft wird. Davon werden alle Bürger direkt oder mittelbar in Mitleidenschaft gezogen. Besonders stark betroffen ist die Wirtschaft, die sich vor dem Hintergrund einer geopolitisch ohnehin schwierigen Lage immer neuen Einschränkungen und Belastungen ausgesetzt sieht. Die häufig chaotischen Entscheidungen einer offensichtlich nicht regierungsfähigen Ampelkoalition legen den Unternehmen zusätzliche Fesseln an und untergraben deren Wettbewerbsfähigkeit. Das geschieht in einer Situation, in der Deutschland beim Wirtschaftswachstum bereits auf die Schlussposition unter den Industrienationen gefallen ist. Das Land braucht eine kompetente, handlungsfähige Regierung und eine überzeugende Agenda, die die primären Großbaustellen mit Sachverstand statt ideologischen Wunschträumen angeht. Andernfalls besteht die Gefahr, dass unsere freiheitlich demokratische Grundordnung massiven Schaden nimmt. Eine Art Generalstreik von Bauern, Lokomotivführern, Spediteuren, Handwerkern und niedergelassenen Ärzten mit weitreichender Lahmlegung von Verkehr, Logistik und Gesundheitswesen gibt einen Vorgeschmack auf das, was kommen könnte. Der Präsident des Bauernverbands verweist auf einen größeren Zusammenhang: „Nicht nur wir sind unzufrieden mit der Regierungspolitik, die aus der Berliner Blase erfolgt, oft beraten von Menschen, die noch nie gearbeitet, nie geschwitzt haben.“

„Tief in der Krise“

Mit erheblichen Sorgenfalten ist die deutsche Wirtschaft in das neue Jahr durchgestartet. Das produzierende Gewerbe war im November 2023 den sechsten Monat in Folge rückläufig. Einen derartigen Absturz hat es zuletzt während der Finanzkrise 2008 gegeben. Mit einem konjunkturellen Rückgang im gesamten zweiten Halbjahr 2023 befindet sich Deutschland in der Rezession. Unter der Überschrift „Tief in der Krise“ veröffentlicht das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) eine Umfrage unter 47 Wirtschaftsverbänden, die keine Trendwende für 2024 erkennen lässt, sondern ein Schrumpfen des BIP um 0,5 % prognostiziert. Anzunehmen ist, dass sich die schlechte Stimmung der Branchen schon bald im Investitionsverhalten und am Arbeitsmarkt niederschlagen wird. Die vom Prinzip Hoffnung getragene Herbstprognose der Bundesregierung, die für 2024 von einem Wirtschaftswachstum um 1,3 % ausging, kann als Makulatur betrachtet werden. Die aktuellen Konjunkturprognosen liegen im Durchschnitt bei einem Wachstum von 0,3 %. Die Bandbreite reicht derzeit von plus 0,9 % bis minus 1,0 %. Übrigens: Eine Folge von zwei Rezessionsjahren gab es in der Geschichte der Bundesrepublik bereits 2002 und 2003, was den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder veranlasst hat, mit der Agenda 2010 ebenso unpopuläre wie wirksame Reformen am Arbeitsmarkt durchzusetzen.

„Mangelhaft“

Mit der Note „mangelhaft“ bewertet die Deutsche Industrie- und Handelskammer die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung. Nie zuvor sind die Rahmenbedingungen für die Industrieproduktion hierzulande so negativ beurteilt worden. Die DIHK merkt an: „Stärker denn je belasten strukturelle und oft hausgemachte Probleme unseren Industriestandort. Zunehmende bürokratische Auflagen, hohe Energiekosten und langwierige Planungs- und Genehmigungsverfahren prägen die betriebliche Praxis.“ Vor diesem Hintergrund verlagern viele Unternehmen Teile ihrer Wertschöpfungsketten in Länder, in denen sie stärker unterstützt werden. Das gilt auch für Investitionen in Forschung und Entwicklung. Deutschland müsse – so die DIHK – insgesamt wieder wettbewerbsfähiger werden. Es bestehe die Gefahr, insbesondere bei digitalen Innovationen den Anschluss an die globale Konkurrenz zu verlieren. Der Verband weiter: „Während bei uns vor allem Bürokratie und hohe Kosten drohen, werben andere Länder mit günstigen Standortbedingungen und wenig Papierkram.“ Der Publizist Gabor Steingart sieht folgende sechs Faktoren, „die den bedrohlichen Abstieg Deutschlands weiter beschleunigen“: die im internationalen Vergleich zu hohen Energiekosten, zu hohe Unternehmenssteuern und unzureichende Wirtschaftsförderung, die Schwächung der Automobilbranche als Schlüsselindustrie, die immer noch hohe Inflation, die Innovationsdefizite deutscher Unternehmen und die strukturelle Schwäche der Volkswirtschaft, die ihr früheres Potenzial nicht mehr entfalten könne.

Allzeittief im Wohnungsbau

Das ifo-Geschäftsklima im Wohnungsbau ist im Dezember 2024 auf den niedrigsten Stand seit Beginn der Erhebung im Jahr 1991 gefallen. Für das erste Halbjahr 2024 rechnen die Wohnungsbauunternehmen mit weiteren Geschäftseinbußen. Entspannung sei nicht in Sicht, die Perspektiven seien düster. Das immer wieder propagierte Ziel der Bundesregierung, jährlich 400.000 neue Wohnungen zu bauen, rücke noch weiter in die Ferne. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) erwartet für das laufende Jahr nur noch die Fertigstellung von 265.000 Einheiten. Die Umsätze bei Bauleistungen werden 2024 – laut DIW – erstmalig seit 2009 sinken. Der Wohnungsbau werde um 5,4 % schrumpfen. Als Ursachen dieser Situation gelten neben dem explosiven Anstieg der Baupreise die EZB-Leitzins-Erhöhungen, die die Konditionen der Baufinanzierung drastisch verschlechtert haben. Auch die Verunsicherung potenzieller Bauherren durch immer neue staatliche Regulierungen wie das Heizungsgesetz (GEG) dürften die Investitionsbereitschaft nicht gerade stärken.

Technologieoffenheit

In einem bemerkenswerten Interview bezieht BMW-Chef Oliver Zipse Stellung zu aktuellen Herausforderungen. So wendet er sich gegen das ab 2035 greifende EU-Verbrennerverbot mit dem Hinweis, nur Technologieoffenheit könne sicherstellen, dass auch die 2035 noch fahrenden Verbrennerfahrzeuge mit möglichst sauberem Sprit unterwegs seien. Zipse weiter: „Die Mobilität lebt nicht von Disruption, das tat sie noch nie.“ Die heutige Krisensprache rede gerne von „Wende“. Das bedeute bildlich eine 180-Grad-Umkehr, die es nicht geben könne. Es gehe um stetige Veränderung, die nicht in wenigen Jahren vollzogen werden könne, sondern Dekaden brauche. Zur 2023 erfolgten Abschaltung der letzten deutschen Kernkraftwerke merkt der BMW-Vorstandsvorsitzende an: „Die Welt muss sich darauf einstellen, bald Heimat von zehn Milliarden Menschen zu sein. Also brauchen wir Antworten, um den wachsenden Energiebedarf zu bedienen. Jedes Gramm CO2, das dabei eingespart werden kann, ist wichtig. Und global gesehen wird die Atomkraft dabei einen relevanten Beitrag leisten. Aber in Deutschland hat man sich entschieden, das Kapitel zu schließen.“ Und weiter: „Ich habe grundsätzlich Zweifel an einem apodiktischen Ansatz, der zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Technologie abschalten will, ohne die Konsequenzen durchdacht zu haben. Klimaschutz beginnt heute. Und der wirksamste Hebel ist Effizienz. Die wirkt sofort, und dieses Potenzial sollte erst ausgereizt werden. Zumal jedes Unternehmen Effizienz benötigt, um am Markt zu bestehen, denn CO2-Emissionen kosten zunehmend Geld. Deshalb halte ich auch den Ausbau von modernen Gaskraftwerken, die wasserstofftauglich sind, für valide. Dieses Zusammenspiel aus nachhaltig erzeugter Energie und Grundlastfähigkeit ist wichtig. Gleichzeitig darf diese Energie nicht zu teuer werden.“ Mit Blick auf die derzeitige Schlussposition Deutschlands beim Wachstum der Industrienationen appelliert Zipse: „Das darf keinesfalls zum Dauerzustand werden. Deswegen erlauben wir uns auch die Mahnung, dass wir mehr in Entry- anstatt Exit-Strategien denken müssten. Es ist ein Irrglaube, dass man Technologien regional einfach verbieten kann, und die Märkte dann global beliebig folgen und dabei noch wachsen. Dazu sind die zugrunde liegenden Mechanismen viel zu komplex.“ Kritisch werde die Lage, wenn es Verbote gebe, aber keine tragfähigen alternativen Lösungen.

Scheinheilig

Seit Abschaltung der letzten drei Atomkraftwerke hat Deutschland erheblich mehr Strom importieren müssen. Im zweiten Quartal 2023 wurden 7,1 Mrd. Kilowattstunden mehr ein- als ausgeführt, was der zuvor von den drei AKWs erzeugten Strommenge entsprach und den höchsten Importüberschuss seit 1991 markiert hat. Zu den deutschen Hauptlieferanten zählt bekanntlich Frankreich, das konsequent auf Atomkraft setzt, um Kohlekraftwerke abzuschaffen und der Erderwärmung entgegen zu wirken. Als weiteres Argument nennt die französische Regierung angesichts des Ukraine-Kriegs die Notwendigkeit, sich vor geopolitischen Gefahren zu schützen. Energie sei zu einer Kriegswaffe geworden. Zur Stärkung der Unabhängigkeit und Autonomie will Frankreich, das derzeit bereits 56 Atomkraftwerke betreibt, den Anteil der fossilen Brennstoffe von derzeit über 60 % bis 2035 auf 40 % senken. Geplant ist der Neubau weiterer 14 AKWs mit einer Leistung von 13 Gigawatt. Dabei handelt es sich um EPR-Reaktormodelle, die mehr Leistung bei höherer Sicherheit bieten sollen. Man darf wohl davon ausgehen, dass die Franzosen in die Kapazitätsplanung auch die künftige Nachfrage ihres westlichen Nachbarlandes einbezogen haben. Ebenso wahrscheinlich ist, dass die Ampel-Regierung die Abschaltung der letzten drei AKWs auch im Bewusstsein angeordnet hat, mit Frankreich stets auf einen zuverlässigen (Atom-)Stromlieferanten zurückgreifen zu können. Daher kann es nicht erstaunen, wenn Kritiker den Ausstiegsbefürwortern in Berlin eine gewisse Scheinheiligkeit unterstellen. Nur am Rande: Auf der jüngsten Weltklimakonferenz haben 22 Länder, darunter auch 12 EU-Mitglieder und Großbritannien beschlossen, die Atomkraft zur Erreichung ihrer Klimaziele bis 2050 massiv auszubauen.

Auf dünnem Eis

Die heftigen Großdemonstrationen und Streiks haben Deutschland zum Jahresanfang in Atem gehalten. Das Vertrauen der Bürger in die Bundesregierung ist in historisch wohl einzigartiger Weise abgestürzt. Selbst eigentlich wohlwollend bis neutral eingestellte Medien tun sich schwer, ihre offenkundige Ratlosigkeit in Schlagzeilen zu fassen. So titelt die Bild-Zeitung: „Die Deutschen sind durch mit der Ampel.“ Der FOCUS schreibt: „Sanierungsfall Deutschland: Das Problem heißt Olaf Scholz.“ ntv meint: „Die Wut der Bauern ist ansteckend.“ Der Tagesspiegel fordert einen „kompletten Neustart“. Und die WirtschaftsWoche stellt die Frage: „Zerbricht die Ampel in diesem Jahr?“ In dieser nebulösen Polit-Phase verliest der Bundeskanzler – merkwürdig entrückt und Teflon-artig wirkend – seine TV-Rede zum Jahreswechsel. Die Ansprache wimmelt förmlich vor Plattitüden und Selbstverständlichkeiten. Jeder und jede in diesem Land werde gebraucht, hieß es. Und: „Wir kommen auch mit Gegenwind zurecht.“ Deutschland müsse sich verändern. Dramaturgischer Höhepunkt der Rede war: „Bei einigen sorgt das auch für Unzufriedenheit. Ich nehme mir das zu Herzen. Und zugleich weiß ich: Wir in Deutschland kommen dadurch.“ Die WELT vergleicht diese Rhetorik mit einem Offenbarungseid. Man kann sich nur über die Qualität der Redenschreiber im Kanzleramt wundern. Das laufende Jahr könnte zur historischen Wegmarke werden. Die gescheiterte Mitgliederbefragung der FDP hat erkennen lassen, auf welch dünnem Eis die Ampel agiert. Ihr bleibt nur noch wenig Zeit, um ihre Regierungsfähigkeit, Berechenbarkeit und Seriosität nachhaltig unter Beweis zu stellen. Unverzichtbar ist eine Reform-Agenda, die überzeugende Antworten auf die zentralen Fragen unserer Zeit gibt. Das Rad muss nicht neu erfunden werden. Die seit Jahrzehnten bewährten Grundregeln der sozialen Marktwirtschaft weisen den Weg.

Der Unternehmer Dietrich W. Thielenhaus  kommentiert aktuelle Entwicklungen in Politik und Wirtschaft.


Verfasst von: Dietrich W. Thielenhaus | Kommentare (0)

Gastkommentar


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