Montag, 15. Mai 2023

Auf dem Weg in die Deindustrialisierung

Gastkommentar von Dietrich W. Thielenhaus
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Der allgegenwärtige Kampf gegen den Klimawandel dominiert und überlagert den allgemeinen Diskurs in Politik, Gesellschaft und Medien. Andere existenzielle Themen und Notwendigkeiten wie die Zukunftssicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland, die Inflationsbekämpfung und die Stabilität des Bankensystems schaffen es kaum noch in die Sphären der öffentlichen Wahrnehmung. Unverkennbar droht auf ganz unterschiedlichen Aktionsfeldern ein Abgleiten der Bundesrepublik in die Deindustrialisierung.

Ernüchterung

Als Strohfeuer scheint sich die konjunkturelle Aufhellung in den ersten beiden Monaten des Jahres zu erweisen. Im März sorgten auf mehreren wirtschaftlichen Schauplätzen überraschende Rückgänge für Ernüchterung. Nicht nur die Exporte und der industrielle Auftragseingang zeigten sich rückläufig, sondern auch die Produktion von Industrie, Bau und Energieversorgern, die 3,4 % unter dem Vormonat blieb. Am stärksten war der Rückschlag in der Kfz-Industrie, die ein Minus von 6,5 % meldet. In der Baubranche lag der Produktionsrückgang bei 4,6 %. Das Neugeschäft der Industrie brach im März so stark ein wie seit der Hochphase der Corona-Krise im Jahr 2020 nicht mehr. Die Aufträge gingen gegenüber dem Vormonat um 10,7 % zurück. Schlechte Nachrichten kommen auch vom Export. So sanken die Ausfuhren im März um 5,2 % gegenüber dem Vormonat. Auf der Minus-Skala rangierten die USA (Rückgang um 10,9 %) vor China (9,3 %) und der EU (6,2 %). Als Ursachen gelten hohe Inflationsraten, steigende Zinsen und geopolitische Verunsicherungen. Vor diesem Hintergrund hat die Deutsche Industrie- und Handelskammer ihre Prognose für das Exportwachstum in 2023 von 2,5 % auf 1,0 % mehr als halbiert. Auch auf europäischer Ebene bestimmt Ernüchterung das Geschehen. So ist der Konjunkturindikator Sentix um 4,4 Punkte zurückgegangen, obwohl Analysten eine leichte Verbesserung erwartet hatten. Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass die deutsche Wirtschaft im ersten Quartal nur haarscharf an der lange befürchteten Rezession vorbeigeschrammt ist.

EZB in der Falle

Die deutsche Inflationsrate war im April mit 7,2 % den zweiten Monat in Folge marginal rückläufig. Die EZB hat Anfang Mai den Leitzins moderat um 0,25 auf jetzt 3,75 % angehoben. Gleichwohl lag die Geldentwertung im Euro-Raum um 7 % über dem Level des Vorjahresmonats. Die Annäherung an die angestrebte Zielgröße einer Inflation von 2 % liegt also noch in weiter Ferne. Und der Realzins, also die um die Geldentwertung bereinigte Leistung, bewegt sich mit minus 3,45 % weiterhin tief im negativen Bereich. Für das laufende Jahr rechnet die EZB mit einem Anstieg der Verbraucherpreise um 5,6 %. 2024 soll die Inflationsrate auf 2,6 % und 2025 auf 2,2 % sinken. Hier scheint allerdings – wie so oft bei EZB-Prognosen – der Wunsch als Vater der Gedanken zu wirken. Die Notenbank sitzt offensichtlich in der Falle zwischen ihrer Pflicht zur Inflationsbekämpfung und ihrer Angst vor einem Abwürgen der Konjunktur. Malte Fischer äußert in der WirtschaftsWoche Bedenken, ob die EZB den Kampf gegen die Inflation noch gewinnen könne. Das zu späte Einschwenken auf den Kurs der geldpolitischen Straffung habe nicht nur dazu geführt, dass sich die Inflation von den Energie- und Nahrungsmittelpreisen in nahezu alle Sektoren und Produkte der Volkswirtschaft fortgepflanzt habe, sondern auch die Verfestigung der Inflationserwartungen bewirkt. Der Chef-Ökonom bringt den Zielkonflikt der EZB so auf den Punkt: „Selbst wenn die Wirtschaft im Gefolge einer beschleunigten geldpolitischen Straffung den Rückwärtsgang einlegen sollte, wäre dies kein Beinbruch. Im Gegenteil. Rezessionen wirken wie ein reinigendes Gewitter. Sie liquidieren Fehlinvestitionen, beenden inflationäre Übertreibungen, restaurieren den preislichen Steuerungsmechanismus und lenken knappe Ressourcen wieder an den Ort ihrer besten Verwendung.“ Zu befürchten sei, dass „die Frankfurter Notenbanker schnell kalte Füße bekommen und den Zinserhöhungszyklus abbrechen, sobald die Konjunktur Zeichen der Erlahmung aussendet. So riskiert die EZB, dass die Inflation zum Dauerphänomen wird. Manchen Finanzministern, vor allem in den Südländern, die die Mehrheit im Rat der EZB stellen, dürfte das ganz recht sein. Denn eine hohe Inflation lässt den realen Wert der riesigen Staatsschulden schmelzen wie die Sonne den Schnee – ganz ohne die Mühsal eigener Konsolidierungsanstrengungen der Regierungen.“

„Stresstest in Echtzeit“

Als trügerisch könnte sich die vermeintliche Ruhe nach dem Bankenbeben in den USA und der Schweiz erweisen. Die Finanzaufsicht BaFin sieht noch keine wirkliche Entspannung auf den Finanzmärkten und warnt vor „irrationalen Ängsten“. Das globale Finanzsystem durchlaufe aktuell einen „Stresstest in Echtzeit“. Noch seien nicht alle Folgen der gestiegenen Zinsen sichtbar. Derzeit sei die Lage insgesamt stabil. Aber die Erfahrung zeige, dass sich die Krisen gewöhnlich in Schüben entwickeln. Die Fakten geben in der Tat Anlass zur Sorge: So sind seit der Pleite der kalifornischen Silicon Valley Bank bisher noch drei weitere regionale Banken kollabiert. Nach FED-Angaben sind seit März rund 500 Mrd. US-Dollar von amerikanischen Geldinstituten abgezogen worden. Eine Ende April von dem Einlagensicherungsfonds FDIC veröffentlichte Untersuchung hat ergeben, dass schon im Jahr 2022 722 Banken nicht realisierte Verluste von über 50 % ihres Eigenkapitals in den Büchern hatten. Derzeit gebe es 31 Banken, deren finanzielle Lage „sehr schlecht“ sei. Als zusätzliches Klumpenrisiko wirkt in den USA die Entwicklung bei den Gewerbeimmobilien, die in wenigen Monaten bereits 25 % an Wert verloren haben. Hier droht eine gewaltige Lawine an Kreditausfällen. Als kontraproduktiv erweist sich in dieser sensiblen Gemengelage die Wirkungsmacht der sozialen Medien, die Informationen und (leider auch) Gerüchte in kürzester Zeit weltweit verbreiten. Außerdem lassen sich Gelder digital – ohne den klassischen Bank Run mit Warteschlangen – schnell und einfach transferieren. Daher kann die BaFin-Feststellung, dass es „bisher keine Gefahr für eine systemische Krise“ gebe, im Ernstfall nicht viel mehr Bedeutung haben als die gestrige Wasserstandsmeldung.

„Riskante Strategie“

Der Standort Deutschland ist auf die schiefe Bahn geraten. Hohe Energiekosten, steigende Zinsen, Fachkräftemangel und geopolitische Unsicherheiten schwächen die internationale Wettbewerbsfähigkeit. Die Anreize für deutsche Unternehmen, im Ausland zu investieren, nehmen zu. Das hat eine DIHK-Umfrage unter 5.100 Mitgliedsunternehmen ergeben. 44 % der Betriebe wollen ihre Investitionen in Nordamerika erhöhen, wo der Inflation Reduction Act mit Subventionen und Steuergutschriften lockt. Für Prozesswärme zahlen deutsche Unternehmen derzeit bis zum Fünffachen dessen, was ihre amerikanischen Konkurrenten aufbringen müssen. Unter der Überschrift „Deutschland stürzt ab“ kommentiert Ulf Poschardt in der WELT: „Die Mehrheit zweier starker Mittelstandsverbände, die der Familien und der jungen Unternehmer, würde in Zukunft ein Unternehmen eher im Ausland als in Deutschland aufbauen. Fast ein Viertel der Befragten denken mindestens einmal pro Woche daran, ihr Unternehmen zu verkaufen. Nahezu alle befragten Unternehmer (96 %) sind überzeugt, dass die Deindustrialisierung in Deutschland begonnen hat.“ Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm hat nach dem Verkauf der Heiztechnik-Sparte von Viessmann zu einer Debatte über den Wirtschaftsstandort Deutschland aufgerufen. Wichtig sei, Rahmenbedingungen zu schaffen, „damit Unternehmen Technologie entwickeln und die Produktion auch hier skalieren“. Dafür brauche es berechenbare und attraktive Rahmenbedingungen. Es sei eine riskante Strategie, mit Verboten zu agieren, die zukünftige Regierungen eventuell wieder aufheben und abändern. Das führe dazu, dass in Deutschland weniger investiert werde. Prof. Grimm vermutet, dass die „regulatorische Unsicherheit“ auch beim Viessmann-Verkauf eine Rolle gespielt habe. Der Bund der Familienunternehmer wirft dem Bundeswirtschaftsminister vor, er habe den Mittelstand vollkommen aus den Augen verloren. Die neue Vorsitzende kritisiert: „Die Fixiertheit des Wirtschaftsministers auf Großindustrie und Subventionen als einziges Instrument für Wirtschaftspolitik ist völlig realitätsvergessen, weil auch sehr viele mittelständische Betriebe dem internationalen Wettbewerbsdruck ausgesetzt sind.“ Und zur geplanten Einführung eines günstigen Industriestrompreises merkt sie an: „Habecks Subventionspläne spalten unser Land: auf der einen Seite die vom Staat abhängigen Großkonzerne, auf der anderen Seite, die mittelständischen Familienunternehmen und Arbeitnehmer, die dies bezahlen“.

Der Unternehmer Dietrich W. Thielenhaus  kommentiert aktuelle Entwicklungen in Politik und Wirtschaft.


Verfasst von: Dietrich W. Thielenhaus | Kommentare (0)

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