Mittwoch, 10. Mai 2023

Wie realistisch ist der Zeitplan der Energie- und Wärmewende?

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Diese Frage stellen sich viele, die sich rein fachlich mit der Umsetzung der von der Regierung betriebenen Energiewende beschäftigen. Erste Zweifel scheinen inzwischen auch Bundeswirtschafts- und -klimaschutzminister Dr. Robert Habeck zu befallen, der, oh Wunder, ein späteres Inkrafttreten seines Heizungsgesetzes nicht mehr ausschließen will. Dass es nicht nur Habeck gut anstünde, sich den bisherigen Zeitplan unter Beachtung der tatsächlichen Gegebenheiten genau anzuschauen, hat letzte Woche ein sehr spannender Vortrag von Holger Gassner, Geschäftsführer der Landesgruppe NRW des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (bdew), gezeigt, den er im Rahmen der Veranstaltungsreihe ‘Handwerk um Zwölf’ der Handwerkskammer Düsseldorf gehalten hat. Thema seines Vortrags: „Ausbau der Infrastrukturen als Voraussetzung für eine erfolgreiche Transformation von Energiewirtschaft und Industrie“.

Schon der Titel macht deutlich: Das Thema ist komplex. Sehr komplex, um es richtiger zu sagen. Und um Missverständnissen vorzubeugen: Gassner ist keineswegs gegen die Energiewende, er warnt nur davor, die realen Umsetzungsherausforderungen schönzureden. Gut gemeint ist in diesem Sektor das Gegenteil von gut gemacht! Dafür reicht zunächst ein Blick auf die Ausgangslage der Energieerzeugung und des Energieverbrauchs in Deutschland. Zum Stichtag Dezember 2022 betrug der Primärenergieverbrauch in Deutschland (alle Sektoren) 11.829 Peta Joule (PJ). Ein PJ entspricht 1015 Joule. Wer sich darunter nicht viel vorstellen kann, dem helfen vielleicht diese Vergleichswerte: 41,868 PJ entsprechen 1 Million Tonnen Rohöleinheiten und 29,308 PJ entsprechen 1 Million Tonnen Steinkohleeinheiten. Von diesem Energieverbrauch entfielen ● 35,2 Prozent auf Mineralöl ● 23,8 Prozent auf Erdgas ● 17,2 Prozent auf Erneuerbare Energien und ● 19,8 Prozent auf Braun- und Steinkohle.

2022 betrug die Bruttostromerzeugung 574,5 Milliarden kWh. Die verteilten sich wie folgt auf die Erzeuger: ● 44,7 Prozent auf Erneuerbare Energien ● 31,9 Prozent auf Braun- und Steinkohle ● 13,5 Prozent auf Erdgas und ● 6 Prozent auf Kernernergie. Haupterzeugungsquellen der Erneuerbaren waren ● Wind (Onshore) mit 17,3 Prozent und ● Photovoltaik mit 10,9 Prozent. Schaut man sich an, wie die Deutschen heizen, ergibt sich folgendes Bild: Ende 2021 wurden ● 49,5 Prozent der 42,9 Millionen Wohnungen mit Gas beheizt ● 24,8 Prozent mit Heizöl und ● 14,1 Prozent mit Fernwärme. Mit ●Strom wurden 2,6 Prozent und mit ●  elektrischen Wärmepumpen 2,8 Prozent gewärmt.

Um vor diesem Hintergrund die Energiewende, speziell die Wärmewende zu schaffen, braucht es enormer Anstrengungen (Finanzmittel und Arbeitskräfte), die bestehende Infrastruktur entsprechend aus- und vor allem umzubauen. Die bisherige Stromversorgung ging von zentralen Stromerzeugern aus, die zunächst über bundesweite Übertragungsnetze und abschließend über Verteilnetze den Strom bedarfsgerecht zu den Abnehmern lieferten. Es war vergleichsweise einfach, Angebot und Nachfrage im Sinne eines stabilen Stromnetzes in Gleichklang zu halten. Dies sieht bei einer Umstellung auf erneuerbare Energien gänzlich anders aus. Die werden einerseits immer häufiger lokal erzeugt (Stichwort Photovoltaik auf Dächern). Zudem schwankt deren Stromerzeugung stark (keine Photovoltaik bei Dunkelheit, kein Windstrom bei Flaute). Es bedarf zur Netzsteuerung daher massiver Speicherkapazitäten, die es aber derzeit nicht gibt, und intelligentere Netze (Stichwort Digitalisierung).

Hinzu kommt die Verstärkung dieser Probleme durch den gewollten Umstieg auf Elektrofahrzeuge und strombetriebene Wärmepumpen. 80 Prozent der Stromerzeugung soll 2030 aus Erneuerbaren Energien stammen, 15 Millionen E-PKW und eine Million öffentliche Ladepunkte sind bis 2030 geplant. Das erhöht den Strombedarf massiv. Speziell das gleichzeitige Schnellladen vieler Elektrofahrzeuge kann die bestehenden Netze an ihre Grenzen bringen. Der Ausbau der Netze hinkt aber seit Jahren dem Bedarf – der über die früheren Planungen anwächst – hinterher. Es ist also absehbar, um nicht zu sagen zwingend, das Laden der Fahrzeuge zu steuern. Nicht wenn der Benutzer laden will, sondern wenn das Netz es hergibt, lautet dann die Parole. Die Herausforderungen, dies zu beheben, sind vielfältig, angefangen von der rechtlichen Durchsetzung bis zum fehlende Personal zur praktischen Umsetzung.

Es kommen neue Herausforderungen hinzu, die die wenigsten so im Blick haben dürften. Stichwort Fernwärme: Immerhin rund 14 Prozent der Wohnungen werden damit beheizt. Sie funktioniert aber im Prinzip nur in Ballungsräumen und setzt wärmeintensive Betriebe voraus, die diese Abwärme in entsprechende Leitungssysteme einspeisen. Nimmt die Anzahl der Betriebe wegen der steigenden Kosten ab, fehlt es anschließend an der Wärmeerzeugung. Diese müsste dann beispielsweise zukünftig verstärkt durch zentrale Wärmekraftwerke auf Wasserstoffbasis erzeugt werden. Stichwort Gasnetze: Die könnten einerseits für Wasserstoff umgewidmet und ertüchtigt werden, allerdings sollen Gasheizungen möglichst durch elektrische Wärmepumpen ersetzt werden.

Das hat gleich zwei bedenkliche Folgewirkungen. Sinkt die Anzahl der Kunden im Gasnetz, verteuert sich das Netz für die verbleibenden Kunden und die Betreiber, häufig örtliche Stadtwerke. Die werden dann allein aus bilanziellen Gründen gezwungen, sich irgendwann von dem Gasnetz zu verabschieden, weil es ansonsten wertevernichtend wirkt. Ohne Gasnetz aber auch kein Wasserstoffnetz. Jedenfalls ist es schwer vorstellbar, wie ein komplett neues Wasserstoffnetz in der erforderlichen Zeit errichtet werden könnte.

Eine Wärmewende ohne eine kommunale Wärmeplanung ist praktisch weder vorstellbar noch umsetzbar. Ein geplanter Anteil von 65 Prozent Heizenergieerzeugung durch erneuerbare Energien bis 2030 ist sehr ambitioniert. Es dürfte bundesweit wahrscheinlich noch keine Kommune geben, die bereits eine solche Planung komplett gemacht hat, da der gesetzliche Rahmen hierfür noch in Arbeit ist. Und die, die sie zukünftig alle machen werden müssen, sofern es klappen soll, werden händeringend nach dem Personal suchen, das dies erledigen kann. Und sie werden vor der schwierigen Frage stehen, von welchen Entscheidungen der Verbraucher sie hinsichtlich deren Wärmequellen ausgehen können. Gassner wies darauf hin, die Umsetzung bei der Fernwärmenutzung werde ohne einen Anschluss- und Benutzungszwang wohl kaum zu realisieren sein. Es sei aber auch klar, dass dies ein unbeliebtes Instrumentarium sei und welche Prozesslawine dort gegebenenfalls ins Rollen gebracht werden könnte.

Um es unsererseits zusammenzufassen: Wer glaubt, diese Gemengelage unterschiedlichster Herausforderungen in einem sehr diffizilen physikalischen Umfeld ernsthaft bis 2030, also in sechseinhalb Jahren, erfolgreich auflösen zu können, lebt im falschen Land. Selbst 2035 ist ein Zeitfenster, das bereits sehr ambitioniert wäre. Die Versäumnisse der Vergangenheit können schlicht nicht im Parforceritt mal eben aufgeholt werden. Soll die Energie- und Wärmewende nicht im Fiasko enden, bedarf es dringend realistischer Einschätzungen, was in welchem Zeitnahmen unter den gegebenen Bedingungen realisiert werden kann. Planer, Ingenieure, Fachkräfte und finanzielle Möglichkeiten der Verbraucher fallen nicht vom Himmel! Wer der Atomindustrie jahrelang vorgeworfen hat, ohne ein dauerhaft funktionierendes Entsorgungskonzept einfach Strom produziert zu haben, also quasi mit einem Flugzeug ohne vorhandene Landebahn abgehoben zu haben, der sollte selbst nicht Dinge beginnen (Heizungsaustausch), ohne in den gewollten Zeiträumen wirklich funktionierenden Ersatz garantieren zu können.


Verfasst von: Frank Schweizer-Nürnberg | Kommentare (2)

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