Montag, 24. Januar 2022

Geimpft, genesen oder geätscht? Was gilt und wieso?

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Ich rege mich nicht besonders gern auf. Und wenn, dann am liebsten über den oder die Richtigen. Daher dauert es meistens lange, bis ich Dampf ablasse. Oft ist mein Ärger auch schon verraucht, bevor ich herausgefunden habe, wem er gelten sollte. Diesmal habe ich den Schuldigen vorher gefunden. Deshalb hier ein Warnhinweis an empfindliche Leser: Achtung, dieser Kommentar wurde vom Zorn diktiert. Aber warum und auf wen?

Es ging los mit einem Blog-Eintrag am Montag, den 17. Januar 2022. Der Autor behauptete sinngemäß, der Rechtsstaat sei – wieder einmal – abgeschafft worden. Als Beweis wurde die geänderte Covid-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmeverordnung (CoSchVO) herangezogen. Die enthalte neue Ermächtigungen für das Robert-Koch-Institut (RKI) und das Paul-Ehrlich-Institut (PEI). Die Institute könnten nun definieren, wer als genesen und wer als geimpft gelte. Sie hätten das auch schon getan – mit dem Ergebnis, dass von einem Tag auf den anderen Millionen von Bürgern nicht mehr als genesen oder geimpft gälten. Ohne Vorwarnung. Ich sah mich, wie derzeit ungefähr jeden zweiten Tag, dazu aufgerufen, den Rechtsstaat zu verteidigen. Dazu muss man wissen: Bei den Verrissen des Rechtsstaats handelt es sich in 90 Prozent der Fälle um in exaltierter Form vorgebrachte Übertreibungen, die sich mit überschaubarem Aufwand vor oder hinter den Kulissen relativieren lassen. Diesmal schien es ein bisschen schwieriger zu sein. Denn der Blog-Autor konnte auf das Netzwerk kritischer Richter und Staatsanwälte verweisen. Dieses hatte in einer Eilmeldung von Sonntag, dem 16. Januar 2022, die Änderungen als skandalös kritisiert.

Ein Blick auf das Zustandekommen der geänderten CoSchVO rückte die Kritik des kritischen Netzwerks etwas zurecht: Der Änderungsvorschlag war erst vom Bundestag und dann vom Bundesrat gebilligt worden. Mehr demokratische Legitimität ist, was das Verfahren angeht, kaum denkbar. Also ein Heimspiel? Es sah ganz danach aus. Denn natürlich kann man den Inhalt einer Verordnung kritisieren. Und weder Bundestag noch Bundesrat machen, wie man weiß, immer alles richtig. Auch mag man es als skandalös bezeichnen, dass zwei wissenschaftsnahe, wenn auch rechtlich unselbständige Einrichtungen wie das RKI und das PEI, zu Zweigstellen der Eingriffsverwaltung gemacht werden. Die beiden Institute kennen sich mit Krankheitserregern und mit Testverfahren aus. Sie sind nicht dafür da zu bestimmen, wann jemand in einem Geschäft nicht mehr einkaufen darf. Die Definition auf einer Instituts-Webseite mit einer Zwangswirkung zu versehen, ist politisch fragwürdig und rechtlich schwer haltbar. Erst recht, wenn sie im Detail unscharf ist. Aber da sind wir schon bei der Lösung: Solange es eine dritte Gewalt gibt – und ja, es gibt sie in Deutschland –, lässt sich ein solcher Betriebsunfall reparieren. Also keine Krise des Rechtsstaats? Leider doch. Nur anders.

Denn natürlich stellt sich die Frage, warum der Bundesrat (um den Bundestag einmal auszuklammern, in dem die Koalitionäre über eine Mehrheit verfügen) einstimmig (!) gebilligt hat, dass RKI und PEI zur Gesundheitspolizei bestimmt und so teilweise zweckentfremdet werden. Die Antwort ist ernüchternd: Der Bundesrat wurde geätscht.

Zu diesem Schluss musste kommen, wer sich auf die Veröffentlichung des nordrhein-westfälischen Ministeriums für Bundes- und Europaangelegenheiten vom 14. Januar 2022 verließ. Dort hieß es, der Genesenenstatus gelte künftig „in Angleichung an europäisches Recht für 180 Tage. Bislang waren es 6 Monate“. Das klang plausibel: Der von der EU konzipierte CovidPass sieht vor, dass die Mitgliedstaaten die Dauer des Genesenenstatus auf maximal 180 Tage festlegen. Nur: Wenn dies die Beschlusslage am 14. Januar 2022 war, wie konnte dann das RKI die Dauer einen Tag später – am gleichen Tag, an dem die Verordnung in Kraft trat – auf 90 Tage reduzieren? Das RKI soll seine Kriterien streng nach wissenschaftlicher Grundlage festlegen. In Frankreich beträgt die Dauer – 180 Tage. In den Niederlanden – 180 Tage. Offenbar hatte die wissenschaftliche Forschung in Deutschland in der Nacht zum 15. Januar 2022 schlecht geschlafen. Just in dem Moment, in dem ihrer Einschätzung eine Eingriffswirkung zukam, kürzte sie den Genesenen-Status zeitlich auf die Hälfte. Jetzt wurde es knifflig: Um wen musste man sich mehr Sorgen machen, um die deutsche Wissenschaft oder um die deutsche Politik?

Die Antwort ergab sich aus der weiteren Recherche. Aufgrund eines externen Hinweises wurde die oben genannte Webseite eine Woche später geändert. Seit dem 21. Januar 2022 ist dort zu lesen: „Der Genesenen-Status gilt künftig in Angleichung an europäisches Recht für 90 Tage. Bislang waren es sechs Monate“. Die Meldung trägt das alte Datum: 14. Januar 2022. Dass der Satz geändert wurde, ist ihr nicht zu entnehmen. Nun dürfen wir mutmaßen: Will das Ministerium verschleiern, dass die Landesvertretung von der Bundesregierung hereingelegt wurde, als sie für die geänderte CoSchVO stimmte? Ist es dem Ministerium egal, dass die neue Mitteilung nicht den Tatsachen entspricht, da die Anrainerstaaten eine längere Dauer des Genesenenstatus vorsehen? Oder zieht es sich auf den formalen Standpunkt zurück, dass in der europäischen Regelung von maximal 180 Tagen die Rede ist? Jede/r mag für sich selbst beurteilen, wie überzeugend es wäre, so zu argumentieren. Meine Meinung ist: Überhaupt nicht. Die Korrektur ist eine üble Verschlimmbesserung. Sie macht es jeder Person, die sich ernsthaft informieren will, unmöglich, das eigentliche Problem zu erkennen. Das ist schlimm genug. Aber was war eigentlich im Bundesrat am 14. Januar 2022 los?

Das lässt sich leicht feststellen. Die Mediathek des Bundesrats gibt bereitwillig Auskunft. Man sieht dort, wie Rainer Haseloff, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, als Redner in der Sitzung auf die Beendigung der epidemischen Lage nationaler Tragweite hinwies. Dies führe zu einer wieder gesteigerten Verantwortung der Bundesländer. Sodann richtete er sich mit Nachdruck an den anwesenden Bundesgesundheitsminister: „Wichtig, lieber Herr Lauterbach, ist aber an dieser Stelle auch, auf eins hinzuweisen: Weil Sie ja, mehr oder weniger, auch eine Regelung jetzt treffen lassen durch nachgeordnete Bereiche, durch das Paul-Ehrlich-Institut und das Robert-Koch-Institut. Dort sitzen Wissenschaftler, die, mit großem Renommee verbunden, das Vertrauen der Bevölkerung haben. Und wichtig ist, dass bei aller Ab-Delegation aus Ihrem Ministerium und damit aus der Bundesregierung in die Zuständigkeit, was die Detailfestlegung anbelangt, dieser beiden Institute, klar ist, …. dass das Ganze nicht politisch übersteuert wird [Herv. vom Autor]. Wenn solche Behörden politische Anweisungen bekommen, was opportun zu sein hat, dann verlieren wir das Vertrauen, was wir dringend brauchen, dass es auch zukünftig eine Politikberatung aus der Wissenschaft heraus gibt. … Wir brauchen Vertrauen. Wir brauchen Vertrauen in die Maßnahmen, wir schränken schließlich Grundrechte ein. Wir brauchen Vertrauen in die Impfstoffe, wir brauchen Vertrauen in die Prozeduren, in die Frequenzen, wann wir impfen, wie oft wir boostern und so weiter und so fort, und das geht nur mit einer unabhängigen Wissenschaft... Das ist meine Bitte….

Prof. Dr. Karl Lauterbach, der unmittelbar nach Haseloff ans Mikrofon trat, versicherte nicht nur, es sei alles so umgesetzt worden, wie man es vorab mit den Ländern besprochen habe. Auch fänden Veränderungen in den Kriterien durch RKI und PEI ohne politischen Einfluss statt, „ausschließlich auf der Grundlage neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse“ [Herv. vom Autor]. Außerdem würden die Bundesländer „selbstverständlich“ rechtzeitig informiert, sodass sie sich nicht regelmäßig die verlinkten Seiten ansehen müssten. Einwände der Bundesländer würden berücksichtigt.

Und warum rege ich mich auf? Weil es unerhört ist, wie viel Porzellan der politische Betrieb zerschlägt. Niemand, der klar denken kann, möchte Haseloff oder Lauterbach fachliche Kompetenz oder persönliche Integrität absprechen. Erst recht nicht, wenn man sieht, mit welchem Einsatz sie ihre Sache vertreten. Aber wieso ist es so schwer, einen Betriebsunfall einzugestehen? Wenn ein Tsunami für eine Ölpest sorgt, bekommen wir Bilder von Fischern, die Öl mit ihren Händen schöpfen. Das ist nicht schön, die Bilder führen im besten Fall aber dazu, dass die Welt ein Stückchen mehr zusammenrückt. Wieso, verflixt nochmal, können Landesvertretungen, die im Bundesrat für die CoSchVO gestimmt haben, nicht zugeben, dass da ein Betriebsunfall passiert ist? Wir brauchen keinen Parlamentarismus, der seine Fehler verschleiert. Wer verschweigt, dass er geätscht wurde, trägt zu Verschwörungsmythen bei. Es wird Zeit für Berufspolitiker zu verstehen, dass außerhalb der Parlamente keine Dummerlinge sitzen. Sondern Personen, die versuchen, sich ihren Reim zu machen. Und wenn sich etwas überhaupt nicht reimt, fühlt man sich nun mal geätscht. Und glaubt im schlimmsten Fall das Schlimmste, nämlich, dass das, was man schützen möchte, gar nicht mehr da ist.

Bei allem Streit um geimpft oder genesen sollte man nicht vergessen, dass es Kriterien dafür gibt, ob jemand geätscht wird oder nicht. Und über diese Kriterien verfügt die Politik nicht. Sie kann nur eines tun: Sie beachten.

Gregor Kuntze-Kaufhold ist Justiziar der markt intern-Verlag GmbH


Verfasst von: Gregor Kuntze-Kaufhold | Kommentare (0)

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