Mittwoch, 19. Mai 2021

Klaus Tipke, der Professor aus Köln, ist gestorben

Gastkommentar von Dr. jur. Michael Balke
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„H i e r   T i p k e“. So klang es oft kurz nach 21 Uhr aus meinem Telefon. Dies war nicht nur zu der Zeit, als ich sein Assistent in Köln und das Telefonieren ab 21 Uhr billiger war, sondern auch während jener, als ich als Finanzrichter in Hannover immer wieder versuchte, Tipkes Steuerrechtslehren in Rechtsprechung umzusetzen, mal mit, mal ohne Erfolg. Dann hatten wir nochmals regen telefonischen und schriftlichen Kontakt, als es galt, sein letztes großes Werk über freies und richtiges Denken (2017/18) zu vollenden. Im Vorwort zu seinem letzten Buch dankt er auch Heidi Scheuner, Dr. Jürgen Pelka und dessen Frau Dr. Brankica Pelka für ständige Unterstützung durch „Rat und Tat“. Zuletzt, als das Lesegerät nicht mehr ausreichte, las Charlotte Ziesemer, Tipkes Tochter, ihrem Vater vor; aufopferungsvoll betreute sie ihn. Unsere Kontakte wurden in den letzten Monaten seltener, weil neben Tipkes Seh- auch sein Hörvermögen stark nachließ. Nun sind seine Anrufe leider endgültig vorbei. Klaus Tipke, emeritierter Rechtsprofessor der Universität zu Köln, ist am 13.5.2021, in seinem 96. Lebensjahr in Köln gestorben.

Neben seiner jahrzehntelangen Hauptthese: „Die gerechte Verteilung der Gesamtsteuerlast auf die einzelnen Bürger ist ein Imperativ der Ethik ... Die vornehmste Aufgabe eines Rechtsstaates ist es, für gerechte Regeln zu sorgen und sie durchzusetzen, seine Bürger vor Unrecht zu schützen“ (Die Steuerrechtsordnung, 1993, S. 261) hat nunmehr Klaus Johannes Tipke mit seinem jüngsten Interview über sein letztes großes Werk eine weitere Kernthese seines lebenslangen Wirkens für ein besseres Recht, für ein besseres gemeinschaftliches Miteinander herausgestellt: „Viel glauben und wenig denken muss nicht jedermanns Ideal sein“ (hpd, Humanistischer Pressedienst, 14.2.2018).

Mit seinem letzten Buch „Kirchenflucht – Warum? Die Kirchen im Dilemma zwischen Bibel und Aufklärung“ (BoD Verlag Norderstedt, 2017, 444 Seiten; Würdigung durch den ‚steuertip‘ am 23.8.2017) fordert Klaus J. Tipke die Kirchen auf, eins der zehn Gebote besonders zu beachten: ‚Auch die Kirchen haben in Glaubenssachen Verantwortung gegenüber den Gläubigen, auch sie dürfen nicht wider besseres Wissen im Sinne des achten Gebots „falsch Zeugnis reden“ wider ihre Gläubigen als ihre Nächsten‘. Von starren religiösen Dogmen, von Ewigkeitsdogmen zumal, hielt er nichts. Klaus J. Tipke hinterlässt mit diesem aktuellen Werk ‚Frohe Botschaften‘:

  • Wissenschaftliches Forschen zur Ermittlung der Wahrheit ist sicherer als „Glaubenswahrheit“ auf der Grundlage von „Glauberei“. Der Glaube ist kein ethischer Wert. Der Unglaube ist kein Unwert. Wissen muss dem Glauben vorgehen.
  • Toleranz den Toleranten, Intoleranz den Intoleranten.
  • Ein religiöses Jüngstes Gericht wird es nicht geben.
  • Die Bibelhölle existiert nicht. Sie wäre mit der Glaubensfreiheit nicht vereinbar.
  • Verhütungsmittel zu nehmen, ist keine Sünde.
  • Rechtschaffene tolerante Gläubige und rechtschaffene tolerante Nichtgläubige müssen gleichbehandelt werden. Was tolerante Menschen glauben oder nicht glauben, muss unerheblich sein.

Ähnlich klar und scharfsinnig hat Klaus Tipke, ehemals Vorsitzender Richter des Finanzgerichts Hamburg, als rechtswissenschaftlicher Vordenker mit vielen internationalen Beziehungen und Professor der Universität zu Köln durch seine kaum zu zählenden Schriften und Vorträge jahrzehntelang das „Chaos“ im Steuerrecht angeprangert und ein einfaches und gerechtes Steuerrecht von der Politik und der Richterschaft eingefordert. Klaus Tipke benannte bereits vor Jahrzehnten die Rechtsprechung als Adressat steuerrechtswissenschaftlicher Erkenntnisse und den gerechten Steuerrichter als einen Mittler von Steuergerechtigkeit. So formulierte er bereits im Vorwort seiner Urschrift zur „Steuergerechtigkeit“ (1981), dass „letztlich nur die Richter die Gerechtigkeitsfunktion des Steuerrechts sichern können“. Dies, weil er vom Steuergesetzgeber kaum etwas erwartete; so führte er in einem Interview mit dem ‚SteuerberaterMagazin‘ 10/2008 Folgendes aus: „Nichts ist erreicht worden bei der Gesetzgebung. Eine Evolution der Steuergerechtigkeit wird es mit dem realen Steuergesetzgeber nicht geben. Die Mitwirkenden an der Steuergesetzgebung sind nicht auf Steuergerechtigkeit aus, sondern auf Wählerstimmenmaximierung oder auf rechtsfremden Fiskalismus oder auf die Erfüllung von Verbandssonderinteressen. Die Lobby hat die Lobby verlassen und sitzt jetzt mitten im Plenarsaal des Bundestages“.

Die von Klaus Tipke gesetzten Meilensteine auf dem langen Weg zum richtigen Steuerrecht heißen „Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis“ (1981, 196 Seiten); „Die Steuerrechtsordnung“, drei Bände, zuletzt 2. Auflage 2012, 1928 Seiten; „Ein Ende dem Einkommensteuerwirrwarr!? Rechtsreform statt Stimmenfangpolitik“ (2006, 224 Seiten). Der von Anfang an überaus erfolgreiche Tipke/Kruse-Kommentar zur Abgaben- und Finanzgerichtsordnung ersetzte die Habilitationsschrift. Last, but not least: das sogenannte Tipke-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9.3.2004 2 BvL 17/02 zur Spekulationssteuer, nach dem, mit den Worten von Klaus Tipke, „die Ehrlichen nicht die Dummen sein sollten“; Klaus Tipke klagte hier erfolgreich in eigener Steuersache, aber auch für die Gemeinschaft der ehrlichen Steuerbürger.

Der Rechtswissenschaftler Klaus Tipke hat nicht nur in Fach-Medien, etwa in ‚Steuer und Wirtschaft‘, sondern auch in Massenmedien, etwa im ‚Der Spiegel‘, veröffentlicht. Klaus Tipke ist nicht nur auf wissenschaftlichen Tagungen, vornehmlich auf denen der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft, die er initiiert und mitgegründet hatte, sondern auch in Funk und Fernsehen aufgetreten.

Auch als Hochschullehrer hat Klaus Tipke seine Studenten durch seine Kompetenz, seine Gewogenheit und durch seine verständliche Sprache begeistert. Zum einen durch sein äußerst erfolgreiches Lehrbuch „Tipke, Steuerrecht, Ein systematischer Grundriss“, 1. Auflage 1973, rund 500 Seiten, bis zur 24. Auflage 2021, 1771 Seiten von „Tipke/Lang, Steuerrecht“ mit weiteren Autoren). Zum zweiten durch seine Vorlesungen, in denen seine Art des Vortrags und sein Umgang mit den Studenten nicht allein außerordentliche Beliebtheit, sondern auch Beifallsstürme erzeugten (dazu der Bericht in Steuer und Wirtschaft, Band 2/1991, Die letzte Vorlesung Klaus Tipkes – Abschied von seinen Kölner Studenten).

Klaus Tipke war u.a. auch mit ‚markt intern‘, dem Sprachrohr des Deutschen Mittelstandes, in besonderer Weise verbunden. Als Mitglied des dortigen „Beirats für Steuergerechtigkeit“ und als ausgezeichneter „Kustos des Mittelständischen Unternehmertums 2007“ veröffentlichte er viele Beiträge im ‚steuertip‘. Mit Artikeln wie „Steuerunrecht durch Übermaß-Formalismus“ (Beilage zum ‚steuertip‘ vom 4.12.2009) und seiner Kritik an den hohen Zugangshürden, die der Bundesfinanzhof und das Bundesverfassungsgericht für Rechtsschutzsuchende selber aufgestellt haben, obwohl sie den Formalismus unterer Gerichte ablehnen, sowie mit Erkenntnissen wie „die Kritiker der formalistischen Elche sind insoweit am Ende selber welche“ schrieb er sich in die Herzen vieler Steuerbürger samt ihrer Berater.

Klaus Tipke war sportlich; er hat u.a. leidenschaftlich gerudert, Tischtennis gespielt und ist gewandert. Klaus Tipke hat auch gerne gefeiert, mal in großer, mal in kleiner Runde. Allerdings immer nach dem Motto, wer feste feiern kann, der kann auch feste arbeiten. So hatte zum Beispiel Dr. Jürgen Pelka keine Kosten und Mühen gescheut, Schülerinnen und Schüler, Freundinnen und Freunde von Klaus Tipke anlässlich dessen 85. Geburtstages zu einem Symposion mit Abendessen in Köln zu versammeln. Fast alle Geladenen kamen und sprachen zum Thema „das Verhältnis der Steuerrechtswissenschaft zur Steuerpolitik“, um - so der Wunsch des Jubilars - etwas Geistiges zu leisten, bevor man sich beim „Nahrhaften“ vergnügte. Nach eigener Aussage während seiner launigen Begrüßung der Gäste war Klaus Tipke bei der Nahrungsaufnahme mit wenig zufrieden: Wenn es Essen in Tablettenform gäbe, würde es ihm genügen „morgens, mittags, abends eine Tablette zu nehmen, da würde ich viel Zeit sparen“.

Klaus Tipke ist tot. Ich werde meinen rechtlichen sowie menschlichen Kompass, mein Vorbild, meinen väterlichen Freund vermissen. Künftig werde ich wohl immer wieder mal an meinen Mentor Klaus Tipke denken, sicher ganz intensiv, wenn gegen 21 Uhr mein Telefon klingelt.

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Von Dr. Michael Balke, Rechtsanwalt, Finanzrichter a.D., Dortmund; einstiger Student und ehemaliger Assistent von Professor Dr. Klaus Tipke


Verfasst von: Michael Balke | Kommentare (0)

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