E-Mobilität — Warum die historische Chance zur Umsetzung eines einheitlichen Abrechnungsstandards in Gefahr gerät

Einen Fehler zu machen, ist das Normalste der Welt. Den gleichen Fehler zu wiederholen, wäre eine Dummheit. Insbesondere dann, wenn eine ganze Branche unter den Konsequenzen zu leiden hätte. Doch aufgepasst – bei der Entwicklung und Verbreitung eichrechtskonformer Ladelösungen braut sich etwas zusammen:

Um besser verstehen zu können, worum es geht, blicken wir – zum Vergleich – zunächst auf das Geschäftsfeld der Gebäudeautomation. Genauer gesagt: auf die Marktentwicklung im Bereich 'Smart Home'. Der KNX-Standard kann auf eine über 20-jährige Historie zurückblicken. Der Marktanteil im gewerblichen Bereich ist beachtlich. Von einer monopolähnlichen Stellung sind die Hersteller der KNX-Association mit ihren jeweiligen Komponenten aber weit entfernt. Auch LonMark und LCN verfügen im gewerblichen Umfeld über eine gewisse Marktrelevanz. Verlagert man den Fokus auf die Zielgruppe der Privatanwender, gesellen sich noch zahlreiche Funkstandards hinzu. Am bekanntesten sind die Anwendungen auf Basis von Zigbee, Z-Wave, EnOcean oder eNet. Hinzu kommen herstellerspezifische Insellösungen, bei denen der Anwender von vornherein auf die Komponenten eines einzigen Herstellers festgelegt ist.

Um den Anwendungsbereich der eigenen Komponenten zu erweitern, setzen viele Anbieter darauf, ihre Produkte über die Implementierung herstellerübergreifender Schnittstellen interoperabel zu machen. Verfügt eine Komponente über eine Schnittstelle, dann wird sie diesem Anspruch gerecht. Dies heißt aber nicht zwangsläufig, dass dadurch eine volle Kompatibilität mit den Komponenten anderer Anbieter garantiert ist. Wer seinen Kunden eine hundertprozentige Kompatibilität garantieren möchte, ist oftmals zusätzlich noch darauf angewiesen, weitere Anpassungen vorzunehmen und sich diese entsprechend zertifizieren zu lassen. Wie zufriedenstellend die Resultate sind, dürfte maßgeblich von der Erwartungshaltung des Anwenders abhängen. Aber: Bei den oftmals krampfhaften Versuchen, eine möglichst reibungslose herstellerübergreifende Kompatibilität zu erreichen, hakt es in Wahrheit häufiger, als man meinen könnte. Dabei gibt es durchaus Lösungsansätze, die über das Level der planlosen 'Flickschusterei' vermutlich niemals hinauskommen werden. Fast alle Experten sind sich einig: Das Fehlen eines einheitlichen Standards ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Marktentwicklung bei der Gebäudeautomation seit vielen Jahren weit hinter den Erwartungen zurückbleibt. Speziell mit Blick auf die Gebäudeautomation mag dieser Zustand volkswirtschaftlich noch zu ertragen sein. Smart-Home-Anwendungen sind in vielerlei Hinsicht sinnvoll und 'nice-to-have'. Aber für das Wohlergehen der Nation ist es nicht entscheidend, in wievielen Gebäuden sich ein automatisierter Rollladen intelligent steuern lässt.

Etwas anders sieht es da schon in der Welt der Mobilität aus. Deutschland ist eine Auto-Nation. Bei der Entwicklung elektrisch betriebener Fahrzeuge zeichnet sich eine technologische Wende ab, die es in sich hat. Das Gute daran: Durch die Notwendigkeit, ein flächendeckendes Netz für Ladeinfrastruktur zu schaffen, hat das elektrotechnische Fachhandwerk eine historische Chance: Es geht darum, gemeinsam mit den Partnern aus Großhandel und Industrie ein maßgeblicher Faktor auf dem Mobilitäts-Markt zu werden. Dies wird allerdings nur dann gelingen, wenn man bei der Schaffung von Ladeinfrastruktur jene Fehler vermeidet, an denen die Branche bei der Gebäudeautomation bis zum heutigen Tag zu knapsen' hat: Ein fehlender einheitlicher Standard!

Die gute Nachricht zuerst: Die Voraussetzungen zur Schaffung eines einheitlichen Standards sind im Grunde vorhanden. Zumindest für europäische und asiatische Märkte hat sich in den letzten Jahren ein Protokoll etabliert, das speziell für den anbieterunabhängigen Datenaustausch innerhalb der im Aufbau befindlichen Ladeinfrastruktur geschaffen wurde: Die Rede ist vom OCPP-Standard. Wer sich die Mühe macht, bei Wikipedia nach konkretisierenden Hinweisen zu suchen, der erfährt dort u. a.:

„OCPP (Open Charge Point Protocol; zu deutsch: Freier Ladepunkt Kommunikationsstandard) ist ein universelles Anwendungsprotokoll, das die Kommunikation zwischen Ladestationen für Elektroautos (EV) und einem zentralen Managementsystem standardisiert. Vergleichbar ist es mit dem Kommunikationsprotokoll von Mobilfunknetzen. OCPP ist auf Initiative der E-Laad-Stiftung in den Niederlanden entstanden. OCPP hat den Zweck, per offenem Anwendungsprotokoll eine herstellerunabhängige Kommunikation zwischen Elektroauto-Ladestationen und diversen Verrechnungs- sowie Management-Systemen von Ladeinfrastrukturen zu ermöglichen. OCPP ist heute weltweit als universelles Kommunikationsprotokoll im Bereich der Ladeinfrastrukturen im Einsatz.“

Zu den Vorteilen von OCPP führen die Wikipedia-Autoren an, dass Ladestation-Betreiber „durch ein universelles Kommunikations-Protokoll weniger abhängig von einzelnen Systemlieferanten“ seien. Wenn ein einzelner Hersteller von Ladestations-Infrastruktur seine Tätigkeit einstelle, sei es möglich, dass „dessen bereits installierte Komponenten über das universelle OCP-Protokoll in die Infrastruktur eines anderen Lieferanten integriert werden. OCPP ermöglicht es durch das herstellerunabhängige Protokoll, bei der Fusion kleiner Ladenetze zu einem größeren Ladenetz die bereits installierte Infrastruktur weiterzubetreiben. Das verbessert die Investitions-Sicherheit von Infrastruktur-Errichtern. Der OCPP hat sich bisher […] in Europa und Asien etabliert.“

Hört sich toll an, mag der geneigte Leser an dieser Stelle denken. Zumal die Wikipedia-Autoren erkennbar bemüht sind, sich mit Blick auf OCPP nicht ausschließlich auf Lobhudelei zu beschränken. Als Kritikpunkt führen die Autoren an: „Im Rahmen der Einführung batterieelektrischer Fahrzeuge (Elektroautos) in ihrem Fuhrpark beschäftigten sich Mitarbeiter der Fraunhofer-Gesellschaft mit der Sicherheit von OCPP (Version 1.5 und 1.6). Dabei wurde festgestellt, dass die Abrechnungsdaten ungeschützt zum zentralen Abrechnungsserver übertragen werden.“

Ein Faktor, den niemand auf die leichte Schulter nehmen sollte. Aber zur Wahrheit gehört auch: Spätestens mit der Möglichkeit zur eichrechtskonformen Zertifizierung durch die Physikalisch Technische Bundesanstalt (PTB) hält sich die praktische Relevanz dieser Thematik in engen Grenzen. So berichtet uns ein Insider:

„Im Rahmen der eichrechtskonformen Abrechnung müssen Hersteller bei der PTB den Nachweis erbringen, dass die Daten von der Messwerterstellung über die Rechnungserstellung im Backend-System bis hin zum Kunden zu Hause unverfälscht und echt sind. Das macht auch eine Abrechnung mit OCPP 1.5 und 1.6 sicher!“

Fakt ist: Sehr viele Hersteller von Ladeinfrastruktur verwenden das OCP-Protokoll. Zum einen, weil es viele Vorteile bietet. Zum anderen aber auch, weil sich dieser Standard in Europa und Asien durchgesetzt hat. Einige Experten gehen sogar so weit, zu behaupten, dass OCPP „bei fast allen führenden Herstellern“ zum Einsatz kommt. Die Vorteile eines universellen Kommunikations-Protokolls liegen auf der Hand:

Möglichkeit zur Beibehaltung einer vorhandenen Infrastruktur auch dann, wenn mehrere kleine Ladenetze sich zu einem neuen vergrößerten Ladenetz zusammenschließen Mehr Unabhängigkeit von einzelnen Systemlieferanten Nachträgliche Integrierbarkeit bereits installierter Komponenten in die Infrastruktur eines anderen Energielieferanten.

Flexibilität, Investitionssicherheit und Unabhängigkeit bei der Wahl des Energiezulieferers – nicht nur Fans der Kirsch-Praline Món Chéri mögen sich an dieser Stelle die Frage stellen: Wer kann dazu schon 'Nein' sagen? Eine abschließende Antwort auf diese Frage mag schwierig sein. Aber: Flexible Lösungen für den Bezug von Energie sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht im Sinne der Energiewirtschaft. Ein Energieversorger, der gegenwärtig nichts unversucht lässt, den Markt mit Lösungen zur Schaffung von Ladeinfrastruktur zu fluten, könnte aus seiner Sicht durchaus gute Gründe haben, den OCPP-Standard zu meiden. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang:

Die RWE-Tochter innogy ist in den letzten Monaten erkennbar bemüht, das installierende Fachhandwerk und den Elektro-Großhandel in seine Aktivitäten zur Verbreitung von Ladeinfrastruktur einzubinden. Dies ist erst einmal eine gute Nachricht, aber: Nach 'mi'-Informationen setzt innogy bei seinen Ladelösungen nicht auf OCPP, sondern auf das Datenprotokoll 'LG2WAN'. Dieses Protokoll wurde im Jahr 2013, damals noch von der Konzern-Gesellschaft RWE-Effizienz, entwickelt. In einer offiziellen Mitteilung vom 12. Dezember 2013 hieß es u. a.: „Damit Ladestationen unterschiedlicher Hersteller direkt ab Werk sicher mit dem IT-System von RWE kommunizieren können, hat RWE-Effizienz jetzt das Datenprotokoll 'LG2WAN' (Ladesäulen-Gateway-to-WAN-Kommunikation) veröffentlicht. So können alle Säulen – unabhängig vom Hersteller – die RWE-Betreiberdienste nutzen“.

Trotz intensiver Recherchen ist es 'markt intern' bisher nicht gelungen, in offiziellen Unterlagen des Konzerns weiterführende Angaben zum heutigen Verbreitungsgrad des offenen Protokolls 'LG2WAN' aufzuspüren. Wer den Versuch unternimmt, zu dieser Frage auf die freie Enzyklopädie Wikipedia zurückzugreifen, erhält folgende Antwort: „Der Artikel 'Lg2wan' existiert in der deutschsprachigen Wikipedia nicht.“

'markt intern' überlässt es jedem einzelnen Leser, welche Rückschlüsse er aus diesen Fakten für die Ausrichtung seiner eigenen E-Mobilitäts-Strategie ziehen möchte. Insgesamt wäre die Branche jedoch gut beraten, aus jenen Fehlern zu lernen, die man im Bereich der Gebäudeautomation machen musste. Ein einheitlicher und mehrheitlich akzeptierter Standard hätte nicht nur für die Entwicklung des Geschäftsfeldes E-Mobilität eine fundamentale Bedeutung, sondern auch für die langfristige Zufriedenheit heutiger Anwender. Und im Gegensatz zur Gebäudeautomation ist es dafür bei der Schaffung von Ladeinfrastruktur noch nicht zu spät – 'mi' bleibt für Sie dran'!