Mittwoch, 20. April 2022

Vor dem perfekten Sturm?

Gastkommentar von Dietrich W. Thielenhaus
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Zunehmend dunkle Wolken ballen sich über der deutschen Wirtschaft zusammen. Der Krieg in Europa verschärft – zusammen mit der weiter schwelenden Pandemie – die ohnehin komplexe Gemengelage, die von massiven Problemen bei Lieferketten und Beschaffung sowie von explodierenden Kosten für Energie, Rohstoffe, Vorprodukte und Transport geprägt wird. Hinzu kommen die expansive Staatsverschuldung, eine Rekord-Inflation und die Sorge, dass an sich überfällige EZB-Zinserhöhungen die bereits rückläufige Konjunktur zum Absturz in eine schwere Rezession bringen könnten. Und als wäre all das nicht genug: Wie ein Damokles-Schwert schwebt das Risiko eines Gas-Embargos mit unabsehbaren volkswirtschaftlichen Konsequenzen über dem Geschehen. Die gegenwärtige Verstärkung und Potenzierung dieser Negativeffekte könnten den idealtypischen Nährboden schaffen für einen „perfekten Sturm“.

Lieferketten in Gefahr

Der Krieg in der Ukraine zieht politisch und wirtschaftlich immer weitere Kreise. Die Welthandelsorganisation WTO geht davon aus, die Weltwirtschaft werde 2022 deutlich weniger wachsen als angenommen. Davon dürfte die im hohen Maße exportabhängige deutsche Industrie besonders stark betroffen werden. Der bereits rückläufige Auftragseingang bereitet den Unternehmen ebenso Kopfschmerzen wie die anhaltende Störung der internationalen Lieferketten, zunehmende Zahlungsausfälle sowie eklatante Preiserhöhungen bei Energie und Transport. Weiter verschärft wird die Gemengelage durch das Wiederaufflackern der Pandemie in China, dem größten Außenhandelspartner der Bundesrepublik. Im dortigen Finanz- und Wirtschaftszentrum Shanghai und in anderen Industriestädten legen rigide Lockdown-Maßnahmen die Produktion weitgehend lahm. Die Europäische Handelskammer in China schätzt, dass davon derzeit etwa 30 % des dortigen BIP und 26 % der Bevölkerung betroffen sind. All das wird nach aller Voraussicht zu weiteren Belastungen der Beschaffungsmärkte mit unabsehbaren Konsequenzen für die deutschen Importeure, Zwischenhändler und Verarbeiter führen.

Die Folgen eines Gas-Embargos

Schon jetzt leidet die deutsche Wirtschaft unter den Kriegsfolgen wie kaum eine andere in Europa. Im Gegensatz zu den anderen großen Volkswirtschaften ist das deutsche BIP im vierten Quartal 2021 und im ersten Quartal 2022 weiter geschrumpft. Im März klagten bereits 80 % der vom ifo-Institut befragten Unternehmen über Engpässe und Beschaffungsprobleme. Gleichwohl rechnen die fünf führenden Wirtschaftsforschungsinstitute für 2022 (noch) mit einem Wirtschaftswachstum von 2,7 %. Zur Makulatur würde diese Prognose allerdings, falls die Gaslieferung aus Russland durch ein Embargo kurzfristig ausfallen würde. Das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) erwartet in diesem Fall einen zweieinhalbjährigen Produktionsstillstand in zentralen  Bereichen. Diese Situation, die das Ende der Grundstoffproduktion in Deutschland bedeute, sei nicht mit Kurzarbeitergeld und Subventionen zu lösen. Es werde zu „massiven Auswirkungen auf die Beschäftigung mit zweieinhalb bis drei Millionen zusätzlichen Arbeitslosen“ kommen. Das IW bezeichnet ein solches Embargo als „erheblichen Eingriff ins deutsche Geschäftsmodell“. Kein anderes Land in der Welt würde vergleichbare Risiken eingehen, weil kein anderes Land dieses Geschäftsmodell habe.

Rückzug eines Wirtschaftsweisen

Auch Prof. Volker Wieland, der zum Ende April seinen Rückzug aus dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung erklärt hat, erwartet im Fall eines Gas-Embargos den Absturz Deutschlands in eine tiefe Rezession. Das Wichtigste sei, das Land jetzt auf die Gefahr eines Lieferstopps vorzubereiten. Der Ökonom empfiehlt: „Insbesondere sollten wir Gas jetzt möglichst schnell in der Stromerzeugung ersetzen, damit wir genug zum Heizen haben. Dazu gehört, dass die Laufzeit der Kernkraftwerke verlängert wird. Darüber hinaus müssen wir mehr Kohle verstromen, insbesondere Braunkohle hat Deutschland selbst. Schließlich müssen wir alles dafür tun, um die Gasspeicher zu füllen, derzeit noch mit Pipeline-Importen, aber schnellstmöglich auch mithilfe von LNG.“ Zu seinem Rücktritt aus dem 'Rat der Wirtschaftsweisen' hat Wieland übrigens erklärt, dass es in dem Gremium „keine optimale Voraussetzung für die weitere Arbeit“ gegeben habe, weil der Posten des ebenfalls freiwillig ausgeschiedenen Prof. Lars Feld von der Bundesregierung nicht nachbesetzt worden sei. Es hätten „mehrmals klare Mehrheiten für inhaltliche Positionen“ gefehlt. Offenbar gab es eine kontraproduktive Pattsituation im Spannungsfeld zwischen „Mehr Markt“ und „Mehr Staat“.

Globale Dimensionen der Krise

Dramatische Auswirkungen des Ukraine-Kriegs auf die Weltwirtschaftsordnung befürchtet der Internationale Währungsfonds (IWF). Wenn sich der Energiehandel verschiebe, Lieferketten veränderten, Zahlungsnetzwerke zerfielen und Länder neu über ihre Währungsreserven nachdächten, könne der Krieg die geopolitische Ordnung grundlegend verändern. Insofern sei der Konflikt ein „schwerer Schlag für die Weltwirtschaft“. Daraus erwachse in verschiedenen Regionen ein erhöhtes Risiko von Unruhen – von Afrika über Lateinamerika bis zum Kaukasus und Zentralasien. Außerdem werde die Ernährungsunsicherheit in Teilen Afrikas und des Nahen Ostens zunehmen, weil Länder wie Ägypten 80 % ihres Weizens aus Russland und der Ukraine importierten. Länder mit engen Handels- und Finanzverflechtungen mit Russland würden von der dort erwarteten Rezession und den Sanktionen tangiert werden.

Inflation auf Rekordhöhe

Die Inflation in Deutschland ist im März auf den höchsten Stand seit der Wiedervereinigung gesprungen. Die Verbraucherpreise lagen 7,3 % über dem Vorjahresmonat. Auslöser waren vorrangig die explodierenden Energiekosten. So stiegen die Preise für leichtes Heizöl um – sage und schreibe – 144 %, für Benzin um 47,4 % und für Erdgas um 41,8 %. Ohne den Kostentreiber Energie hätte die Inflationsrate im März 'nur' bei 3,6 % gelegen. Auch in der Euro-Zone hat die Geldentwertung mit 7,5 % ein Rekordhoch markiert. Seit seiner Einführung hat der Euro noch nie zuvor eine derartige Inflationsrate erreicht. Vor diesem Hintergrund merkt Bundesbank-Präsident Joachim Nagel an: „Die Inflationsdaten sprechen eine deutliche Sprache. Die Geldpolitik darf nicht die Gelegenheit verpassen, rechtzeitig gegenzusteuern.“ Adressat ist die EZB, die ihre eigentliche Aufgabe, die Preisstabilität, zunehmend aus den Augen verloren zu haben scheint. Als prototypisch für diese ideologisierte Grundhaltung, die sich vorrangig an den Interessen der europäischen Schuldenländer orientiert, steht die EZB-Direktorin Isabel Schnabel, die noch im November 2021 vollmundig verkündet hat, der Höhepunkt der Inflation sei erreicht. Wenige Wochen zuvor hatte sich die Finanzwissenschaftlerin noch in öffentlicher Medienschelte geübt, als sie die Inflation als „eher zu niedrig“ einordnete und „unsachliche Kritik“ an der von ihr verantworteten Geldpolitik zurückwies. Eine Einschätzung der zukünftigen Risiken sei nicht zuletzt deshalb wichtig, „weil gerade in Deutschland aktuell wieder viele ‚Experten‘ und Medien die Ängste der Menschen bedienen, ohne die Ursachen der Preisentwicklungen zu erklären“. Ein bekannter Ökonom hat diesen von Realitätsverlust geprägten Vortrag im vertrauten Kreis als „eklatantes Beispiel für einen fachlichen Offenbarungseid der Sonderklasse“ bezeichnet.

EZB im 'Dämmerschlaf'?

Im „stabilitätspolitischen Dämmerschlaf“ sieht Malte Fischer, Chefvolkswirt der 'Wirtschaftswoche', die EZB. Obwohl die Inflation in einigen Euro-Ländern bereits zweistellig sei, wolle die Zentralbank offenbar weiter abwarten, wie sich die Preise und Konjunktur entwickeln, bevor sie über die Zinsen entscheide. Das zeige das Protokoll der EZB-Ratssitzung vom März, bei dem sich die „geldpolitischen Tauben“ mit ihrer zaudernden Haltung durchgesetzt hätten. Man könne sich des Eindrucks nicht erwehren, dass den Frankfurter Notenbankern der Ukraine-Krieg als Ausrede für ihr ostentatives Nichtstun zupasskomme. Und das, obwohl sie per Gesetz verpflichtet seien, die Preise zu stabilisieren, nicht die Konjunktur. Setze die EZB ihren stabilitätspolitischen Dämmerschlaf fort, um den hoch verschuldeten Südländern weiter niedrige Finanzierungskosten zu sichern, dürfte der Zinsabstand zwischen Amerika und Euroland deutlich zunehmen und den Wechselkurs des Euro auf Talfahrt schicken. Das verteuere die Importe und beschleunige die Inflation auf dem Kontinent. Malte Fischer weiter: „Die Ausrede der EZB, der Arbeitsmarkt in Europa laufe anders als in den USA noch nicht heiß, eine Lohn-Preis-Spirale sei daher nicht in Sicht, überzeugt nicht. Auch ohne kräftige Lohnsteigerungen (die in Europa nur noch eine Frage der Zeit sein dürften) werden die Preise weiter anziehen. Und zwar dann, wenn sich die Inflationserwartungen der Menschen aus ihrer Verankerung lösen und sie deshalb aus dem Papiergeld fliehen. Kaufen die Menschen Waren und Dienste, weil sie fürchten, dass schon morgen alles teurer sein wird, schnellen die Preise weiter in die Höhe. Erste Anzeichen dafür sind bereits vorhanden, wie die leergeräumten Regale bei den Discountern vor deren angekündigter Preiserhöhung jüngst zeigten. Die flagrante Missachtung ihres gesetzlichen Auftrags durch die EZB ist nicht nur ein Ärgernis ersten Ranges für die um ihre Kaufkraft bangenden Bürger. Sie zerstört auch das Vertrauen in die Notenbank und den Euro, der unter der Ägide der von den Südländern dominierten EZB zur Lira des 21. Jahrhunderts zu werden droht.“ Und der Publizist Gabor Steingart bringt seine Sicht der Dinge so auf den Punkt: Die EZB nehme bei ihrer lockeren Geldpolitik billigend in Kauf, dass die Vermögen der Sparer dahinschmelzen – zum Wohle der Banken im Süden Europas.

Das Ende der Globalisierung?

Als Ende der Ära der Globalisierung bewertet der Weltwirtschaftsexperte Gabriel Felbermayr den Krieg in der Ukraine. Statt immer stärkerer Verflechtung werde ein neuer Eiserner Vorhang zwischen Russland und dem Westen entstehen. Die Weltwirtschaft zerfalle nun wieder in einzelne Blöcke des Westens, einem von China dominierten Einflussbereich, das sich zunehmend emanzipierende Indien und ein sich isolierendes Russland. Der Ökonom weiter: „Die 30 glorreichen Jahre der Globalisierung sind vorbei. Die Idee eines weltweiten Marktes müssen wir beerdigen.“ Kritik übt Felbermayr an der deutschen Politik der vergangenen Jahre, die sich von Russland abhängig gemacht habe. Dafür müssten die Bürger jetzt die Zeche zahlen.

Der Unternehmer Dietrich W. Thielenhaus  kommentiert aktuelle Entwicklungen in Politik und Wirtschaft.


Verfasst von: Dietrich W. Thielenhaus | Kommentare (0)

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