Montag, 22. November 2021

Konjunktur: Erholung oder Stagflation?

Gastkommentar von Dietrich W. Thielenhaus
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Die konjunkturelle Erholung erweist sich zunehmend als fragil. Beim BIP-Zuwachs rangiert Deutschland – im Vergleich mit den anderen Euroländern – am Ende der EU-Prognose für 2021. Und ob das ambitionierte Wachstumsziel von 4,8 % in 2022 erreicht werden kann, erscheint angesichts neuer Großbaustellen zunehmend fraglich. Als Bremsfaktoren dürften nicht nur die anhaltenden Lieferkettenstörungen wirken, sondern auch die vierte Corona-Welle, die bröckelnde Wettbewerbsfähigkeit, die steigenden Energiekosten, die demographischen Auswirkungen auf die Sozialsysteme, die anziehende Inflation und die EZB-Geldpolitik.

„Kranker Mann Europas"?

Die konjunkturelle Erholung in Deutschland ist im Oktober fast zum Stillstand gekommen. Das hat eine Umfrage von IHS Markit bei 800 Industrie- und Dienstleistungsunternehmen ergeben. Der Rückgang lässt auf eine beginnende Stagnation im vierten Quartal schließen. Als besorgniserregend bewertet Markit, dass die Wachstumsverlangsamung mit steigenden Ein- und Verkaufspreisen für die Unternehmen zusammenfalle. Ursächlich für die konjunkturelle Abkühlung seien „Engpässe bei Vorprodukten und die daraus resultierende Nachfrageschwächung im Automobilsektor“. Da nicht absehbar ist, wann sich die logistischen Staus auf den Weltmeeren und der Mangel an Halbleitern auflösen werden, sinkt in der Wirtschaft die allgemeine Zuversicht. Auch die Daten im gesamten Euro-Raum erscheinen eher ernüchternd. So ist der EU-Konjunkturindikator auf ein Sechsmonatstief gefallen, blieb aber gleichwohl über dem deutschen Wert. Die Stimmung in der deutschen Exportindustrie ist im Oktober massiv eingebrochen. Die Exporterwartungen sind von 20,5 Punkten im September deutlich gefallen auf 13,0 Punkte, den schlechtesten Wert seit Februar 2021. Verschärft wird die Lage durch die heranrollende vierte Corona-Welle, deren Auswirkungen und Belastungen für die Unternehmen derzeit nicht absehbar sind. Die EU-Kommission rechnet für das laufende Jahr mit einem durchschnittlichen realen BIP-Wachstum im Euroraum von 5,0 %. Deutschland liegt mit 2,7 % am Ende der EU-Prognoseskala für 2021. Ob sich die optimistischen Wachstums-Prognosen für 2022 tatsächlich bestätigen werden, erscheint aus heutiger Sicht zweifelhaft. Angesichts der im Vergleich zu anderen Ländern der Euro-Zone schwachen Konjunkturdaten wird in London und Paris inzwischen schon wieder das Klischee von „Deutschland als krankem Mann Europas“ kolportiert.

„Warnsignal"

Auch der ifo-Geschäftsklimaindex spiegelt die konjunkturelle Abkühlung wider. Danach ist die Stimmung der deutschen Unternehmen zum vierten Mal in Folge gesunken. Einen derartigen Einbruch gab es zuletzt im Frühjahr 2020, auf dem Höhepunkt der Corona-Krise. Erhebliche Lieferprobleme infolge von Materialknappheit wirken derzeit – so ifo-Präsident Clemens Fuest – wie „Sand im Getriebe“. Zunehmender Pessimismus schwebt über fast allen Branchen. Nur die Bauwirtschaft bleibt mit seit sechs Monaten anhaltenden Zuwachsraten auf Erfolgskurs. Der Ökonom Jörg Krämer bewertet die aktuellen ifo-Zahlen als „Warnsignal“. Für Verunsicherung der Unternehmen sorge die Annahme, dass die Politik mit neuen Beschränkungen auf die sprunghaft ansteigende Pandemie reagieren werde. Außerdem führe die neue Corona-Welle vor allem in Asien zu Fabrikschließungen, was den Materialmangel und die Lieferkettenprobleme hierzulande verschärfen werde. Für das vierte Quartal zeichne sich eine Stagflation, ein Anstieg der Preise bei wirtschaftlicher Stagnation, ab.

Wettbewerbsfähigkeit

Ausländische Konzerne bewerten den Wirtschaftsstandort Deutschland zunehmend kritisch und planen eine Reduzierung ihrer Investitionen. Das ist die Quintessenz einer neuen Studie, bei der KPMG 360 Finanzvorstände von deutschen Tochtergesellschaften internationaler Konzerne befragt hat. Danach wollen nur noch 19 % der Firmen in den kommenden fünf Jahren Investitionen von jährlich mindestens zehn Millionen Euro in Deutschland vornehmen. Zum Vergleich: Bei der letzten Befragung vor vier Jahren wollten dies noch 34 %. Als größtes Investitionshindernis erweist sich die unzureichende digitale Infrastruktur. 9 % der Befragten bezeichnen sie als „die schlechteste in der EU“, weitere 24 % zählen sie „zu den fünf schlechtesten in der EU“. Beanstandet wird auch die Kosten-Situation: Deutschland gilt als „zu teuer bei Strom, Steuern und Arbeitskosten“. Bei Industriestrom sei die Bundesrepublik mit 18,18 Cent pro Kilowattstunde inzwischen das Schlusslicht in Europa. Das deutsche Steuersystem wird schlicht als „nicht wettbewerbsfähig“ eingestuft. Kritisiert werden auch marode Straßen, Brücken und Schienen. Die Arbeitskosten liegen mit durchschnittlich 36,60 Euro weit über dem EU-Durchschnitt von 28,50 Euro. Dieser Nachteil sei bisher wegen der hohen deutschen Arbeitsproduktivität in Kauf genommen worden. Allerdings beobachteten die Investoren die seit 2018 hierzulande stagnierende Produktivität mit Sorge. Als Fazit stellt KPMG eine schwindende Attraktivität des Standorts fest und warnt, ein weiteres Anwachsen von Regulierung und Bürokratie infolge der geplanten EU-Umweltgesetzgebung könne zur Bedrohung des Investitionsstandorts Deutschland führen. Die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit sollte folglich weit oben auf der Agenda der neuen Bundesregierung stehen.

Energiekosten

Der deutsche Strompreis hat im Oktober ein neues Allzeithoch erreicht. In der Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer rangiert Deutschland auf einem unrühmlichen Spitzenplatz. Das Vergleichsportal Verivox meldet: In keinem anderen G20-Staat ist Strom teurer. In der medialen Diskussion werden hierzulande häufig „die Energiekonzerne“ pauschal der Preistreiberei beschuldigt. Verkannt wird dabei, dass die Hälfte des Strompreises auf Steuern und Abgaben entfällt. Je ein Viertel geht an die Stromnetzbetreiber und die Stromversorger für Beschaffung und Vertrieb. Laut Check24 haben seit August bereits 36 Strom-Grundversorger ihre Preise um durchschnittlich 7,9 % erhöht. Daraus resultieren für einen Musterhaushalt Mehrkosten von 126 Euro pro Jahr. Nicht zu verkennen ist: 63 Euro davon gehen auf das Konto der öffentlichen Hand in Form von Steuern und Abgaben.

Demographie und Finanzen

Auch die Sozialabgaben geraten hierzulande immer mehr aus den Fugen. Ursächlich dafür ist zunächst die in der Politik weitverbreitete Versuchung, bei den Wählern durch immer neue soziale Wohltaten Punkte zu machen. Dieses System war einigermaßen haltbar und funktionssicher, solange genügend Erwerbstätige ausreichende Sozialversicherungsbeiträge bereitgestellt haben. Tatsächlich werden die Rentenkassen aber schon seit Langem und zunehmend mit Steuergeldern subventioniert. Jetzt zeichnet sich angesichts der demographischen Entwicklung eine neuartige Problem-Dimension ab. Prof. Martin Werding (Uni Bonn) zeigt in seiner neuen Studie „Demographische Alterung und öffentliche Finanzen“ ein düsteres Szenario auf. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass sich mit dem jetzt beginnenden Übergang der geburtenstarken Babyboomer-Generation in den Ruhestand das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Rentnern drastisch verändern wird. Der demographische Alterungsprozess trete demnächst „in eine akute Phase“. Für diese Herausforderung seien die öffentlichen Finanzen aber nicht langfristig tragfähig. Der Studie zufolge müssten die Beitragssätze der Sozialversicherungen von derzeit 39,8 % bis 2035 auf fast 48 % steigen. Während aktuell jedem Rentner drei Personen im erwerbstätigen Alter gegenüberstünden, werde sich die Relation in nur 13 Jahren auf 1:2 verschlechtern. Diese Entwicklung werde fatale Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt in Form steigender Lohnkosten und höherer Arbeitslosigkeit haben. Die Alterung wird Deutschland – nach einer Projektion des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) – schon in fünf Jahren mehr als ein Drittel seines wirtschaftlichen Wachstums kosten. Es werde sich von durchschnittlich 1,4 % auf 0,9 % p. a. abschwächen. Damit schwinde die Quelle für Wohlstandszuwächse, was zu mehr ökonomischen Verteilungskonflikten führen werde. Die Sozialkassen seien nicht darauf vorbereitet, mit weniger Einnahmen höhere Ausgaben zu stemmen. Ohne grundsätzliche Reformen drohe eine langfristige Schuldenspirale wie in den Ländern Südeuropas.

„Produktion von Luftschlössern“

Die EZB bleibt trotz explodierender Inflationsraten auf ihrem fatalen Kurs der Geldflutung, der exzessiven Neuverschuldung und der politisch gewollten Zins-Manipulation. Welche Eigendynamik die Geldentwertung mittlerweile angenommen hat, zeigt schlaglichtartig die Meldung des Statistischen Bundesamtes, wonach die Erzeugerpreise gewerblicher Produkte im Oktober – gegenüber dem Vorjahresmonat – um sage und schreibe 18,4 % gestiegen sind. Das war der höchste Anstieg im Vorjahresmonats-Vergleich seit November 1951. Prof. Hans-Werner Sinn weist auf die Gefahr hin, „dass sich der von der EZB erzeugte Geldüberhang in Höhe von fast 5 Billionen Euro irgendwann Güter sucht, die es nicht gibt. Die Folge wäre eine große Inflation.“ Und zu den Auswirkungen der beschleunigten Geldentwertung merkt der wohl renommierteste deutsche Ökonom an: „Indem die EZB die Schuldpapiere der Staaten mit frischem Geld kauft, stolpert Europa von einem Schuldenexzess zum nächsten.“ Der Publizist Gabor Steingart bezeichnet das Agieren der EZB als „politische Anmaßung“. Sie wolle nicht mehr auftragsgemäß die Währung hüten, sondern „Griechenland, Italien, Europa und neuerdings auch das Weltklima retten“. Ihre Geldpolitik präge die Finanzpolitik vieler Länder, die ohne EZB-Hilfe ihre laufenden Ausgaben nicht leisten und ihre Schulden nicht bedienen könnten. Der scheidende Bundesbankpräsident hat in seinem Rücktrittsschreiben offen beanstandet, dass „im andauernden Krisenmodus das Koordinatensystem der Geldpolitik verschoben“ worden sei. Steingart kritisiert im Klartext: „Offenbar will die Notenbank weiter in die Produktion von Luftschlössern investieren.“ Dafür sprechen auch die wiederholten Versuche von Lagarde, die vehement steigende Inflationsgefahr zu vernebeln und zu relativieren. Obwohl mittlerweile die meisten Ökonomen den Geldwertverlust als reale Gefahr einschätzen, behauptet die EZB-Präsidentin, die Teuerung sei im Währungsraum nur ein „vorübergehendes Phänomen“ und werde mittelfristig unter dem EZB-Inflationsziel von 2 % liegen. Offen bleibt, ob diese nicht gerade vertrauensbildende Kommunikationspolitik von Ignoranz, Realitätsverlust oder anderen Motiven gespeist wird. Malte Fischer, Chefvolkswirt der WirtschaftsWoche, bietet folgende Erklärung an: „Was aber, wenn es den Zentralbanken gar nicht mehr um Preisstabilität geht – sondern darum, Staatsschulden durch Inflation abzuschmelzen? Dann wäre es sehr geschickt, Studien in die Welt zu setzen, die Zweifel an der Bedeutung der Inflationserwartungen wecken.“

Der Unternehmer Dietrich W. Thielenhaus  kommentiert aktuelle Entwicklungen in Politik und Wirtschaft.


Verfasst von: Dietrich W. Thielenhaus | Kommentare (0)

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