Montag, 16. August 2021

Bundestagswahl findet wahrscheinlich unter verfassungswidrigem Wahlrecht statt

Blogeintrag | Kommentare (0)

Der Bundeswahlleiter hat inzwischen das Wahlverzeichnis für die Bundestagswahl am 26. September fertiggestellt, sodass nunmehr Briefwahlunterlagen verschickt werden können. Allerdings musste erst das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den Weg dorthin freimachen. Es informierte vergangenen Freitag darüber, die von 216 Mitgliedern des Deutschen Bundestages aus den Fraktionen Bündnis 90/Die GrünenDie Linke und FDP beantragte einstweiligen Anordnung gegen das neue Wahlrecht abgewiesen zu haben.

Gegenstand dieses Streits ist das von der Regierungskoalition auf den letzten Drücker gegen die Opposition beschlossene neue Wahlrecht, mit dem angeblich eine Verkleinerung des Deutschen Bundestages nach der kommenden Wahl erreicht werden soll. Mit der angegriffenen Neuregelung wurden insbesondere das Verfahren zur Ermittlung der Gesamtzahl der Sitze und deren Verteilung auf die Landeslisten der politischen Parteien bei der Bundestagswahl gemäß § 6 des Bundeswahlgesetzes (BWahlG) geändert. Nach monatelangem Zögern und Streit, den nicht zuletzt auch die Union zu vertreten hat, trat die Neuregelung letztlich am 19. November 2020 in Kraft. Ein Kernelement ist die Regelung, drei Überhangmandate nicht mehr auszugleichen. Wobei allerdings schon umstritten ist, ob sich dies der Neuregelung so entnehmen lässt oder ob nicht eine viel größere Zahl an Überhangmandaten nicht mehr auszugleichen ist.

Das Verfahren, nach dem die errungenen Sitze verteilt werden, lässt sich für Normalsterbliche, deren berufliche Hauptbeschäftigung nicht Wahlrechtsverfahren sind, kaum darstellen. Wer sich dafür interessiert, dem empfehlen wir die Erläuterungen im Beschluss des BVerfG zu den Randzeichen 10 bis 13. Kleiner Auszug aus der Stufe 1 des insgesamt zweizügigen Verfahrens: „Danach findet eine Erhöhung der Gesamtzahl der Sitze um eine Unterschiedszahl statt, die sich nach § 6 Abs. 5 BWahlG richtet. Nach Abzug der erfolgreichen Wahlkreisbewerber von der Gesamtzahl der Abgeordneten gemäß § 6 Abs. 1 Satz 3 BWahlG wird die Zahl der verbleibenden Sitze so lange erhöht, bis jede Partei bei der zweiten Verteilung der Sitze (§ 6 Abs. 6 Satz 1 BWahlG) mindestens die Gesamtzahl der ihren Landeslisten nach § 6 Abs. 5 Satz 2 und 3 BWahlG zugeordneten Sitze erhält. Dabei sieht § 6 Abs. 5 Satz 2 BWahlG vor, dass jeder Landesliste der höhere Wert aus entweder der Zahl der im Land errungenen Wahlkreismandate oder dem auf ganze Sitze aufgerundeten Mittelwert zwischen den Wahlkreismandaten und der in der ersten Verteilung nach § 6 Abs. 2 und 3 BWahlG errechneten Sitzzahl der Landesliste zugeordnet wird.“

Entsprechend haben die Antragsteller moniert, die angegriffenen Normen „verstießen gegen das Gebot der Normenklarheit, das dem Gesetzgeber aufgebe, Gesetze hinreichend bestimmt zu fassen“. Der Normtext sei unvollständig und weise Brüche auf, „die eine Auslegung unmöglich machten. Dies führe dazu, dass bei Anwendung der Vorschriften wesentliche Fragen vom Bundeswahlleiter beantwortet werden müssten. Damit werde ihm ein unmittelbarer Einfluss auf die Umrechnung des Wahlergebnisses in Bundestagsmandate eingeräumt.“ Zudem rügen Sie, das eigentliche Ziel der Reform, eine Verkleinerung des Bundestages zu erreichen, „werde durch die Neuregelung nur in derart geringer Weise gefördert, dass dies den Eingriff in Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien nicht zu rechtfertigen vermöge“.

Das BVerfG hält den Antrag für zulässig, aber unbegründet. Allerdings macht es in den Entscheidungsgründen deutlich, dass es die Reform für verfassungsrechtlich problematisch hält. Wörtlich heißt es in dem Beschluss: „Jedenfalls hinsichtlich der in Art. 1 Nr. 3 und 5 BWahlGÄndG enthaltenen Regelungen erscheint es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass diese gegen das von den Antragstellerinnen und Antragstellern gerügte verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot (1) sowie gegen die Gleichheit der Wahl und die Chancengleichheit der Parteien (2) verstoßen. Zudem ist denkbar, dass sich die Hauptsache als begründet erweist, weil § 6 BWahlG in seiner neuen Fassung insgesamt verfassungsrechtliche Vorgaben verletzt (3).“

Insbesondere die Vorschriften zur Nichtanrechnung dreier Überhangmandate hält das Gericht in der Hauptsache für klärungsbedürftig. Zwar erscheine es naheliegend, dass sich der Regelung im Wege der Auslegung entnehmen lasse, dass insgesamt bis zu drei ‘Quasi-Überhangmandate’ aus der ersten Verteilung im Rahmen der Sitzzahlerhöhung nach § 6 Abs. 5 Satz 1 BWahlG nicht ausgeglichen werden sollten. Ebenso dürfte einiges darauf hindeuten, dass auch das Tatbestandsmerkmal „unberücksichtigt bleiben“ dahingehend auszulegen sei, „dass die Norm den Nichtausgleich von bis zu drei Mandaten erlaubt“. Die Entscheidung darüber bleibe jedoch dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.

Das BVerfG betont, gerade beim Wahlrecht komme dem Gebot der Normenklarheit besondere Bedeutung zu. Deshalb habe es in der Vergangenheit schon den Gesetzgeber aufgefordert, „das für den Wähler kaum noch nachzuvollziehende Regelungsgeflecht der Berechnung der Sitzzuteilung im Deutschen Bundestag auf eine neue, normenklare und verständliche Grundlage zu stellen“. Wenig überraschend zweifelt es im aktuellen Beschluss daran, dass die Neuregelung diesem Auftrag entspricht: „Es ist jedenfalls nicht offensichtlich ausgeschlossen, dass § 6 BWahlG in seiner neuen Fassung gegen das Gebot der Normenklarheit verstößt. Dabei ist davon auszugehen, dass § 6 BWahlG bereits vor der verfahrensgegenständlichen Neuregelung mit der Kombination aus erster Verteilung, Sitzzahlerhöhung und zweiter Verteilung in Verbindung mit den Zwischenschritten der jeweiligen Ober- und Unterverteilung einen erheblichen Komplexitätsgrad aufwies. Dieses Verfahren wurde mit Art. 1 Nr. 3 BWahlGÄndG um die Nichtberücksichtigung von bis zu drei Überhangmandaten bei der Berechnung der Sitzzahlerhöhung und die Möglichkeit parteiinterner Verrechnung angefallener 'Quasi-Überhangmandate' ergänzt, wodurch der Komplexitätsgrad der Vorschrift weiter gesteigert wurde.“

Eigentlich beschämend für die Regierungskoalition, die mit der Gesetzesänderung nach eigenen Angaben eine Verkleinerung des Bundestages erreichen will, ist dieser Hinweis des Gerichts, warum es u. a. die einstweilige Anordnung letztlich nicht erlassen hat: „Allerdings ist davon auszugehen, dass die Auswirkungen der streitgegenständlichen Änderungen des Sitzzuteilungsverfahrens gemäß § 6 BWahlG – unter Zugrundelegung einer Beschränkung auf drei ausgleichslose Überhangmandate bundesweit und für alle Parteien – nur eine relativ geringe Zahl an Mandaten betreffen werden. Im Gesetzgebungsverfahren wurde der Effekt der Neuregelung von § 6 Abs. 5 BWahlG auf der Grundlage von Umfrageergebnissen für die bevorstehende Bundestagswahl auf eine Einsparung von sechs Sitzen und auf der Grundlage einer Simulation von 4.000 als möglich erachteten Wahlergebnissen von circa zehn Mandaten beziffert sowie im Mittel mit 8,6 Sitzen angegeben.“

Wenn nicht alles täuscht, wird diese Bundestagswahl nach Abschluss des Hauptsacheverfahrens unter einem dann festgestellten verfassungswidrigen Wahlrecht abgewickelt worden sein. Ehrlicherweise müssen wir allerdings konzedieren, dies dürfte das geringste Problem dieser Wahl sein.


Verfasst von: Frank Schweizer-Nürnberg | Kommentare (0)

Zurück zum Blog

Kommentar verfassen

Bitte beachten Sie bei Ihren Kommentaren unsere Netiquette