Der Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts a. D. Prof. Dr. Dres. h. c. Hans-Jürgen Papier über das Steuerrecht, den Soli und die Sonntagsöffnung

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mi: Herr Prof. Papier, der damalige Bundespräsident Horst Köhler hat bei ihrer Verabschiedung im März 2010 über Sie gesagt, „1998 wurde schließlich aus dem leidenschaftlichen Staatsrechtslehrer ein leidenschaftlicher Verfassungsrichter“ . Hatte der damalige Bundespräsident Recht mit dieser Einschätzung? Und was ist aus dem leidenschaftlichen Verfassungsrichter geworden, nur noch der leidenschaftliche Staatsrechtler oder gibt es noch andere Leidenschaften?

Papier: Also bei mir steht, was die Leidenschaft anlangt, der Beruf, der wissenschaftliche Beruf, im Vordergrund. Es war damals eine sehr interessante Herausforderung, das Richteramt in Karlsruhe zu übernehmen. Ich habe das gerne gemacht. Man arbeitet in seiner beruflichen Karriere auf so ein Amt nicht hin. Das kann und sollte man gar nicht versuchen. Das sind Berufungen, die einen dann einerseits überraschen, aber natürlich auch ehren, und alle Motivation und Leidenschaft fordern.

mi: Sie haben 2005 nach der Bundestagswahl gefordert, die Politik dürfe „das Vertrauen der Bürger nicht weiter aufs Spiel setzen, die Menschen erwarten eine verantwortliche politische Führung des Landes, keine Vorführung taktischer Scharmützel oder smarte Sprüche aus der Werbeabteilung der Politikberatung“ . Würden Sie sagen, die derzeitigen Sondierungen der Jamaika-Koalition werden dieser damaligen Forderung gerecht?

Papier: Ganz konkretes Geschehen möchte ich nicht beurteilen. Ich will nur darauf hinweisen, dass es in unserem tatsächlich gelebten Verfassungsgefüge keine wirkliche Alternative zu solchen Verhandlungen gibt. Nach der Verfassungsrechtsordnung haben wir die Lage, dass der neu gewählte Bundestag zusammentritt und einen Bundeskanzler oder eine Bundeskanzlerin auf Vorschlag des Bundespräsidenten wählt. Kommt dies im ersten Wahlgang nicht zustande, weil die Mehrheit der Mitglieder diesem Vorschlag des Bundespräsidenten nicht zustimmt, dann kann der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Kandidaten oder eine Kandidatin wählen. Kommt auch das nicht zustande, dann findet ein dritter Wahlgang statt, in dem der Kandidat mit den meisten Stimmen gewählt ist. Dann hat der Bundespräsident die Wahl, ob er diesen zum Kanzler oder diese zur Kanzlerin ernennt oder den Bundestag auflöst. So ist die Verfassungsrechtslage. Aber faktisch hat sich, ohne dass dies als verfassungswidrig bezeichnet werden kann, eine ganz andere Situation im Laufe der Jahrzehnte in der Bundesrepublik Deutschland herausgebildet. Aufgrund des Verhältniswahlrechts haben wir eigentlich immer, jedenfalls auf der Bundesebene, den Zwang zur Koalitionsbildung. Und dass bedeutet, trotz des Vorschlagsrechts des Bundespräsidenten benötigen wir im Grunde immer Koalitionsverhandlungen. Die sind diesmal nur besonders aufwendig und kompliziert, weil wir inzwischen – will man dauerhaft eine große Koalition vermeiden – sogar drei Parteien, also vier mit drei Fraktionen benötigen, um eine tragfähige Mehrheit auf die Beine zu stellen. Die einzige Alternative wären Neuwahlen oder Minderheitsregierung.

mi: Jamaika ist der Versuch, von rechts bis links alles unter ein Dach zu binden. Das sind sehr breite Enden, von denen die Kanzlerin gesprochen hat. Warum versuchen CDU/CSU und FDP nicht, einfach mal eine Minderheitsregierung zu bilden? Das wäre ja verfassungsrechtlich auch möglich.

Papier: Es wäre denkbar und ich würde das auch nicht als den Anfang des Untergangs der Bundesrepublik Deutschland verstehen. Minderheitsregierungen sind in Deutschland allerdings verpönt. Obwohl es sie im Bund seit Existenz der Bundesrepublik Deutschland noch nie gab. Also im Grunde hat man gar keine Erfahrung. Aber gleichwohl gilt als unvertretbar, jedenfalls als waghalsig, eine Minderheitsregierung zu bilden. Ich persönlich würde sie sogar favorisieren, wenn die Alternativen eine völlig verwaschene, also gesamtkoalitionäre Politik oder eine voreilige Neuwahl wären. Dabei müssen Sie noch bedenken, dass der Bundesrat bei den wichtigen Gesetzen ein Zustimmungsrecht hat, etwa beim Steuerrecht. Das bedeutet, dass Sie dann wirklich eine ganz große Koalition benötigen. Und was dabei an wirklich substanziellen richtungsweisenden Entscheidungen herauskommen wird, kann man sich vorstellen.

Prof. Dr. Dres .h.c. Hans-Jürgen Papier zu Gast in der 'markt intern'- Redaktionskonferenz

mi: Herr Dobrindt hat seine Maut nur dadurch zustande gebracht, weil er einem Linken-Ministerpräsidenten besondere Fördermaßnahmen versprochen hat, der dann im Bundesrat dem Vorhaben zugestimmt hat.

Papier: Widerspenstige Länder oder Landesregierungen werden, salopp gesagt, bisweilen mit entsprechenden finanziellen Zusagen gefügig gemacht. Das gelingt hin und wieder. Ob es immer gelingt, weiß ich nicht, aber jedenfalls ist unsere Staatspraxis inzwischen so, dass wir letztlich bedingt durch das Verhältniswahlrecht und die föderale Ordnung der Mitwirkung des Bundesrats seit geraumer Zeit die Konstellation vorfinden, dass wir für wichtige Gesetzgebungsakte faktisch eine wirkliche Großkoalition benötigen.

mi: Der Bundestag hat eigentlich die Aufgabe, die Exekutive zu kontrollieren. Dieses vorgesehene austarierte Machtgefüge ist seit der Euro-Rettungshilfe stark verschoben worden, wie etwa Herr Willsch öffentlich gemacht hat. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach gerügt, die Regierung habe die Parlamentsabgeordneten nicht umfassend oder ausreichend bei den Rettungshilfen informiert.

Papier: Die praktische Notwendigkeit einer ganz breiten koalitionsspezifischen Absicherung in der Gesetzgebung führt im Ergebnis zu mehreren Dingen. Einmal zu einer ausgesprochenen Exekutivlastigkeit der Politik oder der Gesetzgebung. Diese ist ganz ohne Zweifel auch schon dadurch bedingt, dass der Bundesrat wiederum bestückt wird durch die Exekutivspitzen der Länder. Da sitzen keine gewählten Repräsentanten der Länder, sondern im Bundesrat sitzen die Landesregierungen. Auch auf der Seite des Bundestages werden ganz selten Gesetzesinitiativen aus der Mitte des Hauses eingebracht, sondern das sind meistens Gesetzesinitiativen der Bundesregierung.

mi: Wie beim Netzwerkdurchsetzungsgesetz.

Papier: Zum Beispiel. Es kommt ein Weiteres hinzu: Die Notwendigkeit einer ganz breiten politischen Zustimmung auf der Parlamentsebene führt dazu, dass die Gesetzgebung, vielfach überhaupt Politik in Deutschland, eigentlich gar nicht mehr aus dem Krisenbewältigungsmodus herauskommt. Dies hat zu einer krisenbewältigenden Adhoc-Gesetzgebung geführt. Die Notwendigkeit des breiten Konsenses führt dazu, dass man weniger eine zukunftsorientierte, auf Nachhaltigkeit angelegte Gesetzgebung betreibt, sondern nur noch Adhoc-Krisenbewältigung. Auch dadurch gewinnt die Exekutive die Oberhand bei der Gesetzgebung. Die hat sich dann auch noch teilweise Sachverstand von renommierten Anwaltskanzleien eingeholt und sich dort zum Teil Gesetzesentwürfe schreiben lassen, etwa in der Finanzmarktkrise. Der einzelne Abgeordnete hat nachher nur noch die Möglichkeit, zuzustimmen oder abzulehnen. Irgendwelche substanziellen Veränderungen durchzusetzen, ist bei einer solchen Gesetzgebungsarbeit fast schon nicht mehr möglich. Und dann kommt noch ein Drittes hinzu. Ich habe öfter Vorträge gehalten zum Thema mehr Recht durch weniger Gesetze. Oder mehr Gesetze, weniger Recht. Immer dann, wenn irgendwelche Missstände, bisweilen auch nur vermeintliche Missstände, festgestellt oder auch nur behauptet werden, wirft man die Gesetzesmaschine an. Keiner fragt, ob diese Gesetze überhaupt vollzugsfähig sind oder von der Justiz und der Praxis in überschaubarer Zeit umgesetzt werden können. Wir stoßen etwa im Finanzbereich teilweise auf Bestimmungen, die sind in der Praxis schlicht nicht umsetzbar. Die binden Staatsanwaltschaften und Strafgerichte über Jahre und nachher kommen Einstellung oder Freispruch oder ein Deal heraus. Also ich nenne hier nur ein Beispiel für meine These, dass es nicht immer richtig ist zu sagen, mehr Gesetze brächten mehr Recht und Gerechtigkeit. Häufig ist es umgekehrt.

mi: Also könnte es besser werden.

Papier: Ja. Der frühere Präsident des EuGH, ein alter Freund von mir, hat immer zu Recht gesagt, bezogen auf die europäische Ebene, wer Recht sät, wird Prozesse ernten. Oder wer Europarecht sät, wird Rechtsprechung des EuGH ernten. Das war seine These. Das kann man auf der nationalen Ebene ganz genau so sagen. Also Weniger wäre in manchen Fällen unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten, unter dem Gesichtspunkt der Vollziehbarkeit bestehenden Rechts besser. Denn für den Rechtsstaat, das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat, ist ganz wesentlich, dass nur solches Recht, nur solche Gesetze geschaffen werden, die auch gegen Jedermann gelten und die auch für und gegen Jedermann durchgesetzt werden.

mi: Das wäre fast schon ein Schlusswort. Aber soweit sind wir noch nicht. Sie haben gesagt, weniger Gesetze führten oft zu mehr Recht. Es gibt inzwischen Felder, da entstehen zum Teil sehr gravierende Regelungen gar nicht durch gesetzliche Vorgaben. Insbesondere im Baubereich ist derzeit eine Tendenz zu beobachten, Gefahrenprävention, wie zum Beispiel den Brandschutz, zunehmend durch kodifizierte technische Normen, und nicht etwa in erster Linie über die Landesbauordnungen zu regeln. Hier werden quasi durch die Hintertür zum Teil gravierende Vorgaben eingeführt, die nicht wirklich parlamentarisch legitimiert sind. Vieles davon bekommt der Gesetzgeber gar nicht mit. Im Bereich Elektrotechnik gibt es derzeit einen daraus resultierenden Normenkrieg von Verbänden, die mit zum Teil höchst gegenteiligen Interpretationen für große Verunsicherung sorgen. Im Kern geht es darum, über den Begriff der ’allgemein anerkannten Regeln der Technik’, der in verschiedenen zivilrecht- und strafrechtlichen Tatbeständen verankert ist, Vorgaben zu machen, deren Missachtung zwar nicht gesetzlich verboten ist, aber mit Blick auf Haftungsrisiken letzten Endes als normative Kraft des Faktischen wirken. Definiert werden die anerkannten Regeln der Technik nicht von Parlamenten, sondern von den Normungskommissionen diverser Verbände. Inwieweit lässt sich so etwas aus Ihrer Sicht mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinen?

Papier: Ich teile ihre Bedenken unter dem Gesichtspunkt von Demokratie und Rechtsstaat. Ich war knapp zehn Jahre auch Richter am Oberverwaltungsgericht hier in Nordrhein-Westfalen. Ich war dort zuständig für das 1976 gerade neu eingeführte Bundesimmissionsschutzgesetz. Damals hatten wir mit der Frage zu tun, wie mit der TA-Lärm, der TA-Luft, also Technischen Anleitungen, VDI-Richtlinien, DIN-Normen usw., umzugehen ist. Die Rechtsprechung hat diese technischen Regelwerke früher als antizipierte Sachverständigengutachten behandelt. Heute misst sie der TA-Luft und TA-Lärm als sogenannte normkonkretisierende Vorschriften unmittelbare Bindungswirkung zu. Andere Regelwerke dienen zumindest als entscheidendes Indiz oder Orientierungshilfe. Ob beispielsweise von einer Fabrikanlage ein unzumutbarer Lärm ausgeht, kann der Richter ohne Sachverständigen nicht selbst entscheiden. Er muss entweder ein Einzelsachverständigengutachten einholen oder er bezieht sich auf diese quasi-normativen Regelwerke. Ich hatte als Rechtslehrer da immer gewisse Bedenken. Denn diese Regelwerke sind nicht nur Ausdruck eines naturwissenschaftlich technischen Sachverstandes, sondern da stecken auch enorme politische Wertungen dahinter. Und wenn hier der Gesetzgeber nur unzureichend eingebunden ist, dann bin ich unter demokratiestaatlichen Gesichtspunkten in der Tat skeptisch, ob das der richtige Weg war oder ist. Es stellt sich für mich schon die Frage, ob man nicht doch zumindest verlangen muss, dass Kraft einer gesetzlichen Ermächtigung der Rechtsverordnungsgeber solche Regelwerke in Normqualität umsetzt. Natürlich wird er sich dann an DIN-Normen, VDI-Richtlinien oder was immer es dazu gibt orientieren. Aber ganz ohne die politische, ich sage einmal Übernahme durch demokratisch legitimierte Organe des Staates kann man gegen eine solche Art privater Normsetzung unter demokratiestaatlichen und rechtsstaatlichen Gesichtspunkten Bedenken haben. Also ich finde, dann sollte die Regierung oder ein Minister ermächtigt werden, solche Werte in staatlicher Normsetzung festzulegen.

mi: Das bedeutet, die Normen würden dann erst durch Übernahme in einer Rechtsverordnung in Kraft treten.

Papier: Ja. Zum Teil geschieht das ja. Zum Teil gibt es solche Rechtsverordnungen, aber zum Teil begnügt man sich mit den Regelwerken nicht demokratisch legitimierter Gremien. Das gilt in zunehmendem Maße auch auf der EU-Ebene. Und das ist nicht ganz unproblematisch.

mi: Kommen wir mal vom Bau zu einer anderen Baustelle und ihrem Satz, Weniger könnte Mehr sein. Das kann man für das deutsche Steuerrecht mit gutem Gewissen sagen. Ihr früherer Kollege Udo di Fabio hat im April 2015 in einem Spiegel-Interview gesagt, die Idee des Verfassungsstaates sei, dass „die Politik möglichst nicht mittelbar oder gar verdeckt auf den Bürger einwirkt, sondern über Gesetze, die klar und bestimmt sind. Wer eine Einkommensteuererklärung abgibt, der weiß, wie weit wir heute schon von diesem Ideal entfernt sind.“ Jetzt haben wir in den vergangenen Tagen gelernt, dass manche Leute gar keine Einkommensteuererklärung abgeben, obwohl sie sogar mal Finanzminister waren. Aber das wollen wir mal ganz außen vor lassen. Uns interessiert, ob eigentlich das deutsche Steuerrecht aus ihrer Sicht in der Komplexität, die es inzwischen hat, noch verfassungsgemäß, sofern dem Bürger klar sein muss, was geregelt wird.

Papier: Ich teile natürlich ihre Bedenken. Die Normenklarheit, die Verständlichkeit eines Gesetzes ist nicht nur eine Forderung der politischen Klugheit, sondern meines Erachtens auch eine rechtsstaatliche Forderung. Ein einfaches Steuerrecht, ein für den Bürger in seiner Belastungswirkung erkennbares Normengefüge, ist eigentlich eine Forderung des Rechtsstaats und auch der Demokratie. Aber die Realität sieht leider anders aus, obwohl das Bundesverfassungsgericht immer wieder an dieser Tendenz zur Unübersichtlichkeit und mangelnder Folgerichtigkeit des Steuerrechts Kritik geübt hat. Ich kann nicht sagen, das gesamte Steuer- oder Einkommensteuerrecht sei nicht mehr rechtsstaatlich. Das hat auch das Bundesverfassungsgericht nicht getan. Aber das Gericht hat immer in Einzelfällen, beispielsweise in einer seiner Erbschaftsteuerentscheidungen, beanstandet, dass die Berechnungssysteme für die verschiedenen Vermögensarten nicht mehr überschaubar seien. Der Gesetzgeber hat sich im Erbschaftsteuerrecht entschieden, die durch einen Erbfall auftretende erhöhte Leistungsfähigkeit des Begünstigten steuerrechtlich zu erfassen. Das kann dann aber nicht durch beliebige Bestimmung der Vermögenswerte geschehen, bei der ganz unterschiedliche Werte etwa für Immobilien einerseits, für Forderungsvermögen andererseits herauskommen.

mi: Sie wissen, was daraus in der aktuellen Reform des Erbschaftsteuerrechts geworden ist. 22 Rechenschritte über einen Zeitraum von 22 Jahren. Würden Sie sagen, der Appell hat gefruchtet?

Papier: Leider nicht. Da kommt zum Tragen, was ich eben erwähnt habe. Eine Gesetzgebung, die meint, jeden Einzelfall gewissermaßen schon auf der Normebene gerecht lösen zu sollen oder zu müssen, produziert dann so etwas. Sicherlich hat damals das Bundesverfassungsgericht schon gesagt, der Gesetzgeber kann auf einer zweiten Ebene bestimmte Erwerbe steuerlich subventionieren oder steuerlich verschonen. Das ist der Grund, weshalb der Gesetzgeber dann so vorgegangen ist. Aber die Lenkungszwecke, beispielsweise der Schutz mittelständischer Unternehmen, müssen in Form zielgenauer und normenklarer Verschonungsregelungen ausgestaltet werden. Der bessere Weg wäre wahrscheinlich wirklich gewesen, dem Ratschlag vieler Fachleute zu folgen und eine klare Umsetzung der Belastungsentscheidung durch geringe Steuersätze bei umfassender Erfassung der Besteuerungsgrundlagen zu regeln. Es wäre gerechter gewesen, im Grunde jeden Vermögenswert, der übertragen wird, sei es durch Schenkung, sei es durch Erbfall, geringer zu belasten, dafür aber gleichmäßig und durchgehend. Das hätte auch von allen Unternehmen getragen werden können. Ich frage mich wirklich, ob es nicht besser gewesen wäre, die Erbschaftsteuer mit einer flachen Flatrate grundlegend zu modifizieren.

mi: Wir wollen Sie nicht frustrieren, aber auch in einem andern Punkt scheint der Gesetzgeber sich nicht dafür zu interessieren, was Sie für geboten halten. Sie haben bereits 2013 gesagt, der Soli sei spätestens 2019 verfassungswidrig. Bei den Jamaika-Verhandlungen geht es aber allenfalls um einen Einstieg in den Ausstieg. Würden Sie, mal unterstellt, es kommt nicht zur Abschaffung des Soli zum 1.1.2019, dann Steuerbürgern raten, gegen Steuerfestsetzung mit einem Solidaritätszuschlag ab 2019 vorzugehen?

Papier: Also ich möchte hier überhaupt keine Ratschläge geben, sondern möchte nur meine persönliche Auffassung noch mal wiederholen, die ich in den früheren Jahren schon geäußert habe. Ich meine, die Verfassungsrechtslage ist ziemlich eindeutig. Aber die Politik sieht das anders und solange und soweit kein Kläger da ist, gibt es keinen Richter. Lassen Sie mich kurz begründen, warum ich die Bedenken habe. Der Solidaritätszuschlag ist nach Artikel 106 GG zu bewerten. Das Bundesverfassungsgericht hat erst vor kurzem auf diesen Art. 106 zurückgegriffen und gesagt, er regle die möglichen Steuerarten. Daran hat sich der Gesetzgeber zu halten. Er hat zwar im Grundsatz ein Steuererfindungsrecht, aber kein beliebiges. Er muss sich hier in dem Gefüge des Art. 106 bewegen. Der Soli ist eine Regelung nach Art. 106 Abs. 1 Nr. 6, also eine Ergänzungsabgabe zur Einkommen- und zur Körperschaftsteuer. Diese Ergänzungsabgabe steht allein dem Bund zu, während die Steuern nach Art. 106 Abs. 3, also die Einkommen- und die Körperschaftsteuer, Gemeinschaftssteuern sind, die zwischen Bund und Ländern geteilt werden. Eine Ergänzungsabgabe auf die Einkommensteuer kann nur zulässig sein, wenn und solange ein besonderer Finanzbedarf gerade nur beim Bund besteht. Denn sonst gibt das ja keinen Sinn. Es muss ein besonderer Finanzbedarf speziell oder nur beim Bund entstehen. Ein Finanzbedarf, der bei allen entsteht, Bund, Länder und/oder Kommunen, darf auf Dauer jedenfalls nicht über die Ergänzungsabgabe abgedeckt werden. Denn damit umgeht der Gesetzgeber, falls er den Soli aufrecht erhält, obwohl der besondere Finanzbedarf speziell beim Bund entfallen ist, etwa die Förderung des Aufbaus Ost, den Artikel 106 Abs. 3. Er macht dann praktisch eine erhöhte Einkommensteuer daraus, ohne dass die Aufkommensteilung zur Hälfte stattfindet.

mi: Der ehemalige Bundesfinanzminister, Dr. Wolfgang Schäuble, ein intelligenter Mensch, der diese Regelung kennt, hat, als er noch im Amt war, vorgeschlagen, die Union solle den Soli in elf Schritten bis 2030 abschaffen. Haben Sie mal mit ihm darüber gesprochen oder können Sie sich erklären, warum er das in Kenntnis der Norm dennoch vorgeschlagen hat?

Papier: Nein. Es ist aber interessant, dass die Bundesländer nicht intervenieren. Denen entgeht ja praktisch das Geld aus der Aufkommensteilung. Der korrekte Weg wäre, den Soli – will man auf das Aufkommen nicht verzichten – in die Einkommensteuer zu überführen. Dann würden die Länder zur Hälfte beteiligt. Also mich wundert, dass die Länder da so stillhalten. Der Bürger wird vielleicht nicht viel von einer korrekten Vorgehensweise haben, weil dann wahrscheinlich die Einkommensteuer erhöht würde.

mi: Dann würde zumindest der wahre Steuertarif erkennbar.

Papier: Ja, das wäre der korrekte Weg und die Länder hätten ihren 50-prozentigen Anteil, der ihnen nach Artikel 106 an sich zusteht.

mi: Die Länder lassen sich dafür vom Bund wiederum Dinge bezahlen, die der Bund vorher nicht bezahlt hat. Herr Prof. Papier, wir könnten noch länger über steuerliche Fragen reden. Mit Blick auf die Uhr wollen wir ein anderes Thema ansprechen, das unsere Leser auch sehr interessiert, soweit sie aus dem Bereich des Handels stammen, die Sonntagsverkäufe. Sie waren damals Präsident nicht nur des Bundesverfassungsgerichts, sondern auch des Ersten Senats, der sich im Zuge des Berliner Ladenöffnungsgesetzes mit der Sonntagsöffnung beschäftigt hat. Danach war eine Zeit lang Ruhe bei dem Thema. Seitdem Verdi im Prinzip jeden Sonntagsverkauf mit der Begründung angreift, die Genehmigung entspreche nicht den Vorgaben des Bundesverfassungs- und des Bundesverwaltungsgerichts, ist aber wieder Bewegung in die Sache gekommen. Das Land NRW hat gerade ein neues Ladenöffnungsgesetz vorgelegt, mit dem es die Genehmigung für Sonntagsverkäufe auf sichere rechtliche Grundlage stellen will. Danach dürfen Kommunen Sonntagsöffnungen mit der Begründung genehmigen, damit solle die „Herstellung eines zukunftsfähigen stationären Einzelhandels“ , der „Erhalt ortsnaher Versorgungsstrukturen“ , die „Belebung der Innenstädte“ sowie die „Steigerung der überörtlichen Sichtbarkeit der Kommune als attraktiver Standort für Bürger und Unternehmen“ gefördert werden. Verdi hat sich uns gegenüber geäußert, dass dies aus deren Sicht verfassungswidrig sei. Der Anlass, um eine grundgesetzliche Sonntagsöffnung zu rechtfertigen, dürfte kein Anlass sein, der an jedem einzelnen Sonntag im Jahr vorliegen kann. Meinen Sie, das hält einer Überprüfung durch das Grundgesetz stand oder müsste das Grundgesetz dafür geändert werden?

Papier: Ich will auf die konkrete Frage der Verfassungsmäßigkeit nicht so dezidiert antworten, weil ich keine Art Vorab-Rechtsberatung geben will, aber ich will daran erinnern, dass das Bundesverfassungsgericht in der von Ihnen angesprochenen Entscheidung vom 1. Dezember 2009 gesagt hat, der verfassungsrechtliche Schutz des Sonntags ergebe sich über Art. 140 GG aus Art. 139 der Weimarer Verfassung. Die Bestimmung besagt ganz klar, der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt. Das ist eine Wertentscheidung zur Förderung, Sicherung und Effektuierung nicht nur der Religionsfreiheit, sondern der Freiheitsrechte der Bürger insgesamt. Auch zum Schutz der Familie. Dieser Sonntagsschutz ist eine Verpflichtung an den Gesetzgeber, ihn auch durchzusetzen, um die Wahrnehmung der Freiheitsrechte durch die Bürger zu fördern. Es geht nicht nur um die Religionsfreiheit. Sonst könnte man sagen, nur am Sonntagvormittag, wenn die Gottesdienste stattfinden, dürfe keine Ladenöffnung sein. Nein, es soll auch etwa um den Schutz der Familie und um den Schutz der freien Entfaltung der Persönlichkeit gehen. Die tagtägliche Geschäftigkeit soll an Sonntagen ruhen zum Schutze der Freiheitsrechte der Bürger. Das Gericht hat auch gesagt, den Gesetzgeber treffe hier eine Schutzpflicht. Er dürfe Ausnahmen von der Sonntagsruhe nur dann zulassen, wenn und soweit gewichtige, der verfassungsrechtlichen Verbürgung des Sonntagsschutzes gleichwertige öffentliche Belange in Rede stehen. Das bloße Shoppinginteresse der Bürger oder das Interesse am Umsatz und Verkauf der Inhaber der Unternehmen seien kein solcher Grund. Das ist eine ziemlich klare Aussage und da wird man sich schon fragen müssen, ob es bei den genannten Formulierungen dieses Gesetzesentwurfs im Grunde nicht letztlich um das Umsatzinteresse der Gewerbetreibenden und das Shoppinginteresse von Teilen der Bevölkerung geht, was vom Gericht nicht als rechtfertigender Grund anerkannt worden ist. Ich will das jetzt nicht abschließend bewerten. Da muss man abwarten, wie das Gesetz im Einzelnen am Ende aussieht. Aber man wird sagen müssen oder können, dass bloße Umsatzinteressen, aber auch rein wettbewerbspolitische Aspekte des Einzelhandels keinen hinreichenden Legitimationsgrund begründen. Der Wettbewerb im Handel muss sich nun mal den allgemeinen verfassungsrechtlichen und auch einfachgesetzlichen Rahmenbedingungen anpassen und nicht umgekehrt. Bei einer weitreichenden Deregulierung der Ladenöffnungszeiten an Sonntagen würde letztlich ein 7. Werktag eingeführt. Und ich stimme mit dem Aktionskreis von Verdi und den Kirchen überein, dass ein 7. Werktag im Grunde niemanden schlussendlich etwas nutzen wird. Denn die Kunden oder Kundinnen, die man über eine erweiterte Ladenöffnung an Sonntagen an sich ziehen möchte, die würden dann irgendwann auch am Sonntag arbeiten müssen. Das würde im Grunde auch zu Lasten der kleinen Einzelhändler gehen. Die müssten dann selbst auch sonntags hinter der Theke stehen. Wenn für alle der Sonntag ein Werktag ist, entfällt schlussendlich irgendwann für den Einzelhandel der reklamierte Vorteil. Das muss man deutlich sehen.

mi: Dass für die drohenden Fehlentwicklungen der örtlichen Lebens- und Wohnverhältnisse die fehlende Sonntagsöffnung monokausal verantwortlich wäre, stimmt natürlich nicht. Wenn ein Shoppingcenter oder ein FOC nach dem anderen genehmigt und eröffnet wird, dann kann man wohl kaum die Öffnungszeiten dafür fast monokausal verantwortlich machen.

Papier: Ich bleibe dabei, ich möchte dieses Vorhaben nicht abschließend beurteilen. Nur, man wird eben prüfen müssen, ob die formulierten Gründe wirklich dringende Gründe des Gemeinwohls sind. Oder ob dahinter nur eine verkappte Berücksichtigung der Interessen bestimmter Handelskreise zu sehen ist. Ich bin nach wie vor ein Anhänger des Sonntagsschutzes, was natürlich nicht ausschließt, dass es Sonderregelungen für Arbeit am Sonntag gibt, falls gesamtgesellschaftliche Erfordernisse dafür bestehen.

mi: Jetzt müssen wir noch einmal einen großen Cut machen. Aus den Niederungen der Sonntagsöffnung zu den vielfältigen Aspekten der Asyl- und Flüchtlingspolitik. Sie haben sich dazu sehr deutlich geäußert. Im Januar 2016 haben Sie davon gesprochen, das Verhalten der Regierung sei „ein partielles Versagen des Staates als Garant von Freiheit und Sicherheit gegenüber seinen Bürgern“ gewesen und sie fordern „eine strikte Trennung von Asyl- und Migrationspolitik“ . Sie haben das erst vor kurzem vor der Katholischen Akademie in Berlin noch einmal dezidiert wiederholt. Können Sie hier vielleicht noch einmal mit kurzen Worten skizzieren, worum es ihnen dabei im Kern geht? Worin sehen Sie das partielle Versagen und was würden Sie einer kommenden Regierung empfehlen?

Papier: Die Politik in Deutschland krankt seit langem und eigentlich immer noch daran, dass sie nicht unterscheidet zwischen dem Asylrecht im juristischen Sinne und der Möglichkeit des Staates, aus humanitären Gründen, aber auch aus Gründen des sagen wir einmal ökonomischen und demografischen Eigeninteresses Einwanderung zu ermöglichen oder sogar zu fördern, weil wir Arbeitskräfte brauchen. Das ist bisher in Deutschland weitgehend über die Schiene des Asylverfahrens gelaufen. Das hat dazu geführt, dass inzwischen sehr viele Ausländer in diesem Land leben, die einen Flüchtlingsstatus, auch im Sinne des internationalen Rechts, nie erlangen werden, nicht erlangt haben oder aber, auch das hat es leider gegeben, durch eilige oder flüchtige Entscheidungen einen Flüchtlingsstatus zugesprochen bekommen haben, obwohl der ihnen de jure nicht zusteht. Sie können davon ausgehen, dass ein ganz erheblicher Teil der Personen, die sich in diesem Lande aufhalten, illegal eingereist sind, obwohl § 18 des Asylgesetzes sagt, Personen, die aus einem sicheren Drittstaat in die Bundesrepublik Deutschland einreisen, ohne in Besitz eines Aufenthaltsrechts zu sein, seien an der Grenze zurückzuweisen. Davon wird kein Gebrauch gemacht. Alle Personen, die auf dem Landwege nach Deutschland kommen, kommen aus einem sicheren Drittstaat. Eigentlich müsste bei ihnen nach dem geltenden Asylgesetz eine Zurückweisung erfolgen. Das geschieht nicht. Es erfolgt inzwischen immerhin eine Registrierung. Was bedeutet das? Man lässt Personen ungehindert einreisen, die ersichtlich kein Asylrecht im Sinne des geltenden Grundgesetzes, aber auch des einfachen Gesetzesrechts in Verbindung mit dem europäischen Recht erlangen können, weil sie nicht zum Kreis der individuell politisch Verfolgten gehören. Ich mache den Leuten keinen Vorwurf. Im Gegenteil, es ist ganz klar, dass Personen, die die Möglichkeit sehen, einfach unter Hinweis darauf, sie würden einen Asylantrag in Deutschland stellen, auch wenn der nach geltender Rechtslage offensichtlich aussichtslos ist, in Deutschland einreisen können, dies auch tun. Und damit erhalten sie während der Dauer des Verfahrens eine Aufenthaltsgestattung. Selbst wenn eine negative Entscheidung rechtskräftig geworden ist, was u. U. Jahre dauern kann, müssen sie trotz bestehender Ausreiseverpflichtungen oft nicht ausreisen, weil eine Abschiebung aus den verschiedensten Gründen nicht in Betracht kommt. Ein Kollege hat einmal gesagt, dass aus dem Asylrecht nach der deutschen Rechtspraxis ein Asylbewerberrecht geworden ist. Allein dadurch, dass Einreisende kundtun, sie werden einen Asylantrag stellen, bekommen sie faktisch ein Aufenthaltsrecht, zum Teil von unkalkulierbarer Dauer. Manchmal lebenslang. Das habe ich beanstandet. Das halte ich auch unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten für eine Missachtung rechtsstaatlicher Forderungen. Ich bin nicht gegen Asyl. Ich bin nicht gegen Schutzgewährung, aber es muss in den rechtsstaatlich korrekten Formen ablaufen und nicht so, wie es in den letzten Jahren abgelaufen ist. Auch die Dublin-Verordnung, geltendes Europarecht, ist im Grund flächendeckend missachtet worden. Nach der Dublin-Verordnung ist dasjenige Land für Asylgewährung zuständig, das als Erstzutrittsland gilt, also das Land der Europäischen Union, in dem der Flüchtling zuerst europäischen Boden betreten hat. Was ist daraus geworden? Die Erstzutrittsländer haben von Anfang an keine hinreichende Unterstützung erfahren von den anderen Ländern, auch von Deutschland nicht. Man hat bewusst Dublin an die Wand fahren lassen, sehenden Auges. Italien, Griechenland waren überfordert und haben dann gesagt, bitte, dann winken wir die Flüchtlingen eben durch. Die Deutschen sind ja nicht mehrheitlich unwillig, bedrohten Menschen Schutz zu gewähren. Sie sind auch nicht ausländerfeindlich, sondern was sie mehrheitlich beanstanden, ist, dass der Rechtsstaat hier zum Teil vorgeführt wird.

mi: Gab es diese Diskussion nicht schon einmal vor knapp 60 Jahren? Sie wurde bekannt als die Forsthoff-Abendroth-Kontroverse, bei der es letztendlich um die Frage Rechtsstaat versus Sozialstaat ging. Es wurde lange diskutiert, in welche Richtung sich das Grundgesetz weiterentwickeln solle. Es wurde dann später dem Sozialstaat der Vorzug gegeben. Beginnend mit den späten 50er, und den frühen 60er Jahren wurde der Gedanke der Menschenwürde immer weiter fortentwickelt. Die führte eigentlich ein abstraktes Dasein in Artikel 1, wurde aber in der Folge immer weiter konkretisiert, auch vom Bundesverfassungsgericht.

Papier: Ja, das stimmt. Auch die Gewährleistungen des menschenwürdigen Existenzminimums hat das Gericht daraus abgeleitet. Aber es hat auch gesagt, das Asylrecht ist nicht Ausfluss der Menschenwürde. Es steht nicht unter der Ewigkeitsverbürgung des Artikels 79.

mi: Das ist ein bisschen in Vergessenheit geraten.

Papier: Es wundert mich immer wieder, wenn in der Politik im Zusammenhang mit dem Asylrecht ständig gesagt wird, wir können doch nicht das Grundgesetz preisgeben. Im Grundgesetz steht Artikel 16a. Dort ist in Abs. 1 gesagt, politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Aber Abs. 2 steht gleich dahinter. Dort heißt es, auf das Asylrecht kann sich nicht berufen, wer aus einem Staat der Europäischen Union oder einem sonstigen sicheren Drittstaat nach Deutschland einreisen will. Damit sind alle Personen, die über den Landweg nach Deutschland kommen, jedenfalls nicht im Sinne des Grundgesetzes asylberechtigt. Das wird zum Teil oft überlesen. Mit der Dublin-Versordnung wurde geregelt, dass für die Asylgewährung grundsätzlich die Staaten zuständig sind, in die der Antragsteller als ersten Staat der EU einreist. Damit wollte man damals verhindern, was dann nachher doch eingetreten ist, dass diejenigen, die sich auf Asylrecht berufen, ob zu Recht oder zu Unrecht, letztlich faktisch ein Wahlrecht haben, welcher Staat in der Europäischen Union ihnen als Aufenthaltsstaat am genehmsten ist. Die Wahl fiel dann lange Zeit vor allem auf Deutschland, nachdem andere Staaten wie die Skandinavier sich schon abgeschottet hatten.

mi: Deutschland fällt die Dublin-Verordnung auf die Füße, weil das Abkommen in den Zeiten gemacht wurde, als die Zahlen niedrig waren. Da wir umringt sind von sicheren Drittstaaten, schien es eine kluge Idee zu sein, Asylbewerber so von Deutschland fernzuhalten. Herr Orbán hat in der Hochphase der Flüchtlingskrise den schönen Satz geprägt, die Flüchtlinge wollten nicht in die EU, sie wollten nach Deutschland.

Papier: Diese Entwicklung zeichnete sich nach meiner Beobachtung nicht erst 2015 ab, sondern schon viele Jahre zuvor. Also hätte man Zeit gehabt, sich darauf einzustellen und zumindest diese Erstzutrittsländer durch europäische Solidarität in die Lage versetzen müssen, halbwegs diese Dublin-Verordnung zu erfüllen. Das ist nicht geschehen. Man hat, ich habe es vorhin vielleicht etwas salopp ausgedrückt, Dublin 3 praktisch an die Wand fahren lassen. Der nachträgliche Versuch, Dublin 3 zu entschärfen, indem man innereuropäische Verteilungsquoten festlegt, ist dann auch gescheitert. Da machen viele Staaten schlicht nicht mit.

mi: Was halten Sie davon, dass der Bundestag nie über die Merkelsche Anordnung, die Grenzen bleiben offen, befunden hat?

Papier: Im Grunde ist das zunächst einmal eine administrative Entscheidung gewesen, die letztlich darauf hinausgelaufen ist, dass man die Grenzbehörden nicht angewiesen hat, § 18 Abs. 2 Nr. 1 Asylgesetz umzusetzen. Die Umsetzung stand damals zur Diskussion. Ihr Kollege Robin Alexander hat darüber ein Buch geschrieben. Es war nach dessen Nachforschungen alles schon vorbereitet für eine Anweisung an die Bundespolizei, entsprechend § 18 zu verfahren. Aber das wurde aus welchen Gründen auch immer wieder abgeblasen. Die Bayerische Staatsregierung hat dann erwogen, ob sie gegen dieses Verhalten Klage beim Bundesverfassungsgericht erhebt. Dieses Vorhaben ist jetzt wohl aufgegeben worden, nachdem ein Rückgang der aktuellen Zahlen zu verzeichnen ist. Aber ich habe in der Süddeutschen Zeitung gelesen, der Präsident des BND habe in einem öffentlichen Vortrag in München erklärt, dass in näherer Zukunft rationale Gründe zu emigrieren bei einer Milliarde Menschen bestünden. Rationale Gründe sind nachvollziehbare Gründe, aber nicht ohne Weiteres Asylgründe. Also kurzum, das Problem ist nicht vom Tisch, auch wenn die Zahlen geringer geworden sind.

mi: Wir müssen mit Blick auf die Uhr versuchen, erneut einen ganz harten Schnitt zu machen. Wir möchte die Gelegenheit nutzen, jemanden, der sich auch sehr dezidiert zum Datenschutz geäußert hat, dazu zu befragen. Bei den Entscheidungen zum Lauschangriff und zur Vorratsdatenspeicherung ging es um Daten, die der Staat erhebt oder nutzen möchte. Das wäre ein eigenes Thema. Wir wollen aber etwas anderes ansprechen. Wir haben, nennen wir es mal salopp, Datenkraken wie Google, Facebook oder Amazon. Die sammeln von Leuten, die ihre Dienste nutzen, mehr oder weniger freiwillig, manches kann man gar nicht machen, ohne die Daten freizugeben, unzählige Daten. Müssten wir eigentlich nicht viel genauer hinschauen, was in diesem Bereich geschieht? Sind das nicht eigentlich inzwischen die stärkeren Gefährder? Sie haben einmal formuliert, die „unvoreingenommene Freiheitsentfaltung ist eingeschränkt, wenn die Menschen wissen oder damit rechnen müssen, dass ihr Verhalten festgehalten und irgendwann wieder dargestellt werden kann. Das ist das Risiko eines Überwachungsstaates, den wir auf jeden Fall verhindern müssen.“ Das war bezogen auf den Staat, der alles sammelt. Aber müssten wir nicht bei den angesprochenen privaten Datenkraken irgendetwas machen?

Papier: Sie sprechen hier ein ganz wichtiges Problem an, das eigentlich erst so richtig in den letzten Jahren entstanden ist. Ich habe kürzlich aus Anlass des 70jährigen Geburtstages der führenden Fachzeitschrift in der Juristerei, der NJW, in dem Jubiläumsheft den Leitaufsatz geschrieben über die Herausforderung des Rechtsstaats im Zeitalter der Digitalisierung. Darin bin ich genau auf dieses Thema eingegangen, dass die Gefährdung des Grundrechts auf Schutz der menschlichen Persönlichkeit, etwa in der Gestalt des Grundrechts auf Schutz der informationellen Selbstbestimmung, nicht mehr vorrangig durch staatliche Institutionen gefährdet ist, sondern durch private Unternehmungen, die zum Teil international und digital operieren. Nun gelten unsere Grundrechte an sich als Freiheitsrechte unmittelbar nur gegenüber dem Staat, nicht im Privatrechtsverkehr. Aber, und das habe ich in diesem Aufsatz auch besonders hervorgehoben, die Grundrechte sind auch Grundlage staatlicher Schutzpflichten zu Gunsten seiner oder für seine Bürgerinnen und Bürger. Der Staat ist verpflichtet, einen Mindestschutz der Grundrechte gegenüber Gefährdungen durch Private zu gewährleisten. Er kann das selbst wahrnehmen. Oder der europäische Gesetzgeber erledigt das, dann ist der deutsche Gesetzgeber entlastet. Das ist in der Datenschutzgrundverordnung der EU ansatzweise geschehen. Die tritt 2018 in Kraft. Darin sind schon einige wichtige Schutzvorrichtungen oder Schutzmechanismen vorgesehen, z. B. die interessante Regelung, dass international digital operierende Unternehmen an das europäische Datenschutzrecht gebunden sind, selbst wenn sie ihren Sitz außerhalb der Europäischen Union haben. Wenn sie Dienste in der Europäischen Union anbieten, sind sie, egal wo sie ihren Sitz haben, an europäisches Datenschutzrecht gebunden. Bei der Frage der Datenverwendung und Datensammlung geht die Datenschutzgrundverordnung von dem Prinzip der Einwilligung aus. Das reicht in meinen Augen allerdings nicht. Denn Sie haben völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass zwischen diesen Unternehmen und den Verbrauchern eine gestörte Vertragsparität besteht. Zwar muss eine Einwilligung der Verbraucher vorliegen, aber was bleibt Ihnen anders übrig, wenn Sie diese fast monopolartig organisierten Dienste in Anspruch nehmen wollen? Sie werden einwilligen. Ich habe deshalb in dem Aufsatz die Frage aufgeworfen, ob es nicht ein besseres Konzept wäre, eine Art Optionslösung einzuführen, nach der der Verbraucher von vornherein ausdrücklich die Wahl bekommt, entweder die Dienste kostenlos in Anspruch zu nehmen, und dafür in die Datenverwendung einwilligt, oder aber von vornherein die Möglichkeit hat, die Speicherung und Datenverwendung nicht einzuräumen, dafür dann aber ein angemessenes Entgelt für die Dienstleistung zahlen muss. Also ich finde, in der Datenschutzgrundverordnung sind erste richtige Schritte gemacht worden zum Schutz der Verbraucher gegenüber Grundrechtsbeeinträchtigungen durch private Dritte, aber das Schutzkonzept ist meines Erachtens wegen der gestörten Vertragsparität von Verbrauchern und Dienstanbieter noch nicht hinreichend.

mi: Wir können ihnen jetzt schon zusagen, Herr Prof. Papier, wir werden diesen Gedanken über den Kreis der NJW hinaus in unserer Berichterstattung gerne aufgreifen. Wir finden den Vorschlag gut. Ganz herzlichen Dank, dass Sie uns so umfangreich Rede und Antwort gestanden sind.